Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

Über Männer, Tränen und Privilegien

Welche Rolle spielen herrschende Vorstellungen von Männlichkeit, wenn es zu häuslicher Gewalt kommt? Dieser Frage ist ZHAW-Absolvent und Mannebüro-Mitarbeiter Timo Jost in seiner Bachelorarbeit nachgegangen.

von Regula Freuler

An der Wand im Mannebüro Züri hängt eine andere Zeit. Sie besteht aus säuberlich gerahmten und schon ein wenig vergilbten Dokumenten und Medienberichten. Die meisten stammen von 1989, dem Gründungsjahr der Beratungs- und Informationsstelle. Es war die Zeit, als im Gefolge der Frauenbewegung das traditionelle Männerbild hinterfragt wurde und die britische Band The Cure selbstironisch sang: «Boys Don’t Cry».

Heute, dreissig Jahre später, liegt auf dem ovalen Tisch vor Tim Jost eine Box mit Taschentüchern – für den Fall, dass Tränen fliessen. Sie werde häufiger gebraucht, als man vielleicht denke, sagt der Sozialarbeiter: «Männer erfahren eben nach wie vor eher selten, dass man sich aufrichtig nach ihrem Befinden erkundigt und ihnen zuhört. Und wenn es doch geschieht, wühlt das viele von ihnen auf.»

Gefühle im Fussballstadion

Jost ist einer der fünf Berater im Mannebüro Züri. Sie erarbeiten mit ihren Klienten Strategien, um Konflikte gewaltfrei zu lösen. Die meisten kommen freiwillig, für einige ist die Beratung jedoch Teil einer Massnahme, nachdem sie gewalttätig wurden. Zu ihnen gehören etwa Teenager, die durch die Jugendanwaltschaft zugewiesen wurden. Die Beratungsstelle bietet ausserdem Unterstützung in Krisensituationen wie bei Trennungen und Scheidungen sowie allgemein bei Beziehungsproblemen oder Fragen zu Sexualität. Derzeit bildet das Mannebüro acht Sozialarbeitende mit Migrationshintergrund für die Gewaltberatung aus, um besser auch jene Männer zu erreichen, die weder Deutsch noch Englisch sprechen.

Das Mannebüro befindet sich im Langstrassenquartier. Die Küche ist üppig dekoriert mit Fussball-Devotionalien wie Schals und Pokalen. Timo Jost lacht, als man ihn darauf anspricht. «Ja, das mag auf den ersten Blick klischiert wirken, aber unser Geschäftsleiter ist eben ein grosser Fussball-Fan», erklärt er. Und man dürfe nicht vergessen: «Für viele Männer ist ein Match eine der wenigen Situation in ihrem Leben, in der sie einander nahekommen und zärtliche Gefühle zeigen können.»

Theoretische Ansätze

Jost kennt sich aus mit gesellschaftlichen Konstruktionen von Männlichkeit und wie diese zu stereotypen Bildern führen können. Er hat letztes Jahr mit einer Bachelorarbeit zu diesem Thema sein ZHAW-Studium abgeschlossen und dafür die Bestnote erhalten. Sein Interesse geht über die akademische Beschäftigung hinaus. Er engagiert sich im Vorstand des Vereins «Die Feministen», die unter dem Motto «Rethink Masculinity» Männer für die Gleichstellung aller Geschlechter und Geschlechtsidentitäten sensibilisieren und mobilisieren wollen. 

Seine Eltern hätten eine klassische heteronormative Rollenteilung gelebt, sagt der 25-Jährige, und in den nuller Jahren, als er sozialisiert wurde, trat die feministische Bewegung eher leise auf. Seine fachliche Auseinandersetzung mit Gender-Fragen begann während seines Studienaufenthalts an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Was versteht er eigentlich selbst unter Männlichkeit? «Ein gesellschaftliches Konstrukt, in dem cis Männer zu vorherrschenden Vorstellungen von Männlichkeit sozialisiert werden», sagt er.

Vertritt er also die These, mit der die amerikanische Philosophin Judith Butler in den neunziger Jahren die Dekonstruktion gängiger Vorstellungen von Gender angestossen hat? Diese besagt, dass Geschlecht als Rolle und nicht als biologische Gegebenheit zu verstehen sei. «Butler war und ist sehr wichtig, aber ich finde auch, dass sich Geschlecht aus einem wechselseitigen Verhältnis von körperlicher Materialität und Diskurs erschliesst», erklärt Timo Jost und verweist auf die deutsche Philosophin Andrea Maihofer, deren Ansatz auf jenem von Butler aufbaut.

Nachholbedarf an Hochschulen

Judith Butler, Simone de Beauvoir, Pierre Bourdieu, Andrea Maihofer: Der Sozialarbeiter hat die Fragestellung seiner Bachelorarbeit, nämlich inwiefern Männlichkeitskonstruktionen im Zusammenhang häuslicher Gewalt für die Soziale Arbeit relevant sind, mit wissenschaftlicher Literatur beantwortet. Warum wählte er keinen praktischen Ansatz? Mit seiner Teilzeitstelle im Mannebüro sässe er an der Quelle. «Ich wollte mir mehr theoretisches Wissen aneignen, Zahlen und Fakten recherchieren, um von da aus weitergehen zu können», erklärt Jost.

Denn das hat er vor: Die Soziale Arbeit müsse sich wandeln, dafür will er sich einsetzen. «Die binäre Zuteilung in Männer und Frauen ist eine der strukturprägendsten Ordnungen für unsere Gesellschaft. Dessen muss sich unsere Profession viel stärker bewusst sein», betont Jost. «Auch die Schweizer Fachhochschulen haben im Vergleich etwa mit Deutschland in dieser Hinsicht noch Nachholbedarf.»

«Männer sollten Verantwortung für Beziehungen mittragen»

Timo Jost, Mitarbeiter Mannebüro Züri und ZHAW-Absolvent

Code-Wörter und Time-out

Soweit die Theorie. Wie sieht es in der Praxis aus? Er lacht: «Natürlich halte ich den Klienten keine Vorträge über Butler oder Beauvoir.» Meistens fehle die Zeit für Vertiefungen. «Primär geht es darum, dass ein Mann seine Situation einordnen kann, beispielsweise wie es zu einer Wegweisung durch die Polizei kam.» Mit einigen Klienten erarbeitet man einen Notfallkoffer. Dabei lernen die Männer zu erkennen, was in ihnen körperlich abläuft, wenn sie wütend werden. «Einer bekommt dann einen heissen Kopf, ein anderer fühlt einen Knäuel im Bauch», erläutert Timo Jost. Dann bestimmt man ein Code-Wort, an das der Klient am Beginn einer Eskalation denken soll, gewissermassen als Zeichen für ein Time-out, in dem er einen Spaziergang macht oder im Keller Holz hacken geht.

So ein Notfallkoffer ist aber schon ein grosser Schritt. «Viele Männer – wie überhaupt viele Menschen – fliehen zunächst einmal in Ausreden für ihr Tun», so Jost. Wenn einer sage: Ich musste die Frau schlagen, und er tief in diesem Narrativ stecke, brauche es mehr Zeit. Ein anderer, häufig gehörter Satz: «Ich bin auch ein Opfer.» Dann sei es wichtig nachzufragen, was damit gemeint sei, «aber ob der Mann selbst auch Opfer von Partnergewalt geworden ist, kann ich letztlich nicht beurteilen», betont der Sozialarbeiter.

Verantwortung mittragen

In der Regel gehe es sowieso nicht nur darum, Handgreiflichkeiten zu rekonstruieren und zu beurteilen, sondern auch um deren Einordnung in einen grösseren Kontext. Dazu gehören beispielsweise Gespräche über die Qualität der Paarbeziehungen. «Wenn ich die Klienten frage, wie sie ihre Beziehung leben möchten, haben viele keine Antwort darauf», erzählt Jost. «Oder sie finden, dass sie erst einmal abwarten, was die Partnerin oder der Partner wünsche.» So aber geraten sie immer wieder an den Punkt, an dem sie sich hilflos fühlen und möglicherweise gewalttätig werden.

Verantwortung für die Beziehung mitzutragen, sei für einige Männer noch ein Lernfeld. «Die einseitige Fokussierung auf den Job und die dadurch entstandene Distanz von der Familie funktioniert spätestens dann nicht mehr, wenn Konflikte auftreten», weiss Jost.

Über «patriarchale Dividenden» reden

Der Sozialarbeiter steht auf und malt ein Dreieck auf die Flipchart. In die Ecken schreibt er drei Adjektive: unterstützend, begrenzend, öffnend. Das Modell stammt von männer.ch, dem Dachverband Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Dieser versteht Männerarbeit als schwebendes Dreieck. Am Begriff ‹begrenzend› stören sich einige Sozialarbeitende, sagt Timo Jost. Er selbst hält ihn für wichtig. «Der Begriff bezieht sich nicht nur auf die Arbeit gegen gewalttätiges Verhalten», erklärt er, «sondern auch auf eine politische Ebene.» Und da gehe es eben darum, dass Männer nicht mehr ihr Anrecht auf gewisse Privilegien geltend machen können wie früher.

Ist sie das nun, die vielfach beschriebene «Krise der Männlichkeit»? Es stimme schon, sagt Timo Jost, in unserer Gesellschaft ist Mann zu sein nicht immer leicht. Aber man müsse auch sehen: «Männer erhalten eine patriarchale Dividende, und über diese müssen wir reden.»