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Zwischen Kindesschutz und Asyllogik

So viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende wie noch nie gelangen in die Schweiz. Forschende der ZHAW untersuchen, wie ihre Situation verbessert werden kann. 

Unbegleitete Minderjährige haben dasselbe Recht auf Unterstützung wie gleichaltrige Schweizer:innen. (Foto: Djamila Grossman)

Von Mirko Plüss 

Sie kommen allein, brauchen Schutz und benötigen deutlich mehr als nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf: Immer mehr unbegleitete minderjährige Asylsuchende, sogenannte Mineurs non accompagnés, kurz MNA, erreichen die Schweiz. Die meisten von ihnen sind zwischen 13 und 17 Jahren alt und männlichen Geschlechts, sie stammen grossmehrheitlich aus Afghanistan und haben eine lange Reise hinter sich.  

Über 3000 Jugendliche und Kinder waren es im vergangenen Jahr. Ihre Zahl steigt seit Jahren stetig an. Um zu verstehen, was dies für die Strukturen der Sozialen Arbeit im Asylbereich bedeutet, kann man exemplarisch einen Blick auf den Kanton Zürich werfen. Hier belief sich die Zahl der minderjährigen Asylsuchenden letztes Jahr bis im Dezember auf rund 600 Personen – nicht weniger als eine Verdopplung gegenüber Ende 2022.

Von Notfall zu Notfall

Die Situation in der Betreuung der Minderjährigen ist nicht nur in Zürich, sondern gesamtschweizerisch herausfordernd. In den letzten beiden Jahren häuften sich Meldungen zu Missständen in MNA-Einrichtungen. Unter Fachpersonen wuchs die Sorge hinsichtlich ihrer Betreuung und Unterbringung.  

Sozialarbeitende berichteten von überbelegten Zimmern, fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und zu wenig Betreuungs- und Alltagsangeboten für die Geflüchteten. Das Forum für kritische Soziale Arbeit Kriso zitierte im Herbst eine Sozialarbeiterin wie folgt: «Uns fehlte die Zeit, um mit den Jugendlichen pädagogisch zu arbeiten. Eine Folge davon war ein autoritärer Führungsstil. Ich rannte von Notfall zu Notfall.»  

Schlechteres Angebot für MNA

An der ZHAW Soziale Arbeit beschäftigt sich die Fachgruppe MNA schon seit mehreren Jahren und im Rahmen diverser Studien und Vernetzungsaktivitäten vertieft mit dem Wohl, den Rechten, der Unterbringung und der Betreuung von MNA. Ziel der Gruppe ist «die Vernetzung von relevanten Akteur:innen inklusive der jungen Menschen selbst, um aus verschiedenen Perspektiven aktuelle Probleme und dringliche Herausforderungen zu benennen».  

Auf die Bitte verschiedener Fachpersonen hin initiierte die Fachgruppe zudem ein Austauschgefäss für involvierte Akteur:innen rund um das Thema Qualitätssicherung und -entwicklung in der Betreuung und der Unterbringung von MNA. Dies nicht nur angesichts der steigenden Asylgesuche, sondern auch des latenten Fachkräftemangels in dem Bereich.  

Eigentlich gelten für unbegleitete Minderjährige die kantonalen Kinder- und  Jugendhilfegesetze, die auch bei gleichaltrigen Schweizer:innen Anwendung finden. Laut Fachleuten dürfte es aber gerade wegen der aktuell hohen Asylzahlen immer wieder der Fall sein, dass den MNA bei der Betreuung ein schlechteres Angebot zur Verfügung gestellt wird, als es die Gesetze vorschreiben.  

Asyllogik überwiegt

Die Kantone befinden sich bei der Betreuung von MNA in einem grundsätzlichen Spannungsfeld, sagt Miryam Eser von der ZHAW-Fachgruppe: «Rechtlich gesehen müsste der Kindesschutz im Vordergrund stehen, doch oft überwiegt die Asyllogik.» Die kindes- und altersgerechte Unterbringung und Betreuung sei in vielen Fällen nicht gewährleistet, sagt Eser.  

Zugänge zu den ausdifferenzierten Angeboten der kantonalen Kinder- und Jugendhilfe gebe es kaum, die Schnittstellen zum Kindesschutz seien nach wie vor in Klärung: «Das führt dazu, dass MNA und Schweizer Kinder und Jugendliche ungleich behandelt werden.»  

Kantone im Krisenmodus

Neben Miryam Eser, Samuel Keller und Eva Mey gehört auch Andrea Barbara Hartmann der Fachgruppe an. Sie pflichtet Eser bei: «Es findet eine anhaltende Diskriminierung der MNA statt, die weniger Beistand als andere schutzbefohlene Kinder und Jugendlichen von behördlicher Seite erhalten, obwohl die Schweiz klar der Kinderrechtskonvention verpflichtet ist.» Die MNA hätten keine Lobby und damit auch keine öffentliche Stimme.  

Hartmann spricht einen weiteren Punkt an: «Nachdem 2015 eine Rekordzahl von MNA in die Schweiz gekommen war, hätte man die Jahre danach dazu nutzen können, das Betreuungssystem für MNA zu verbessern.» Stattdessen seien die Asylstrukturen wieder heruntergefahren worden. Die Folge davon: «Nun mussten viele Kantone erneut im Krisenmodus reagieren und temporär Betreuungspersonal anstellen. Für eine nachhaltige und kinderrechtkonforme Betreuung der MNA bräuchte es – trotz der Volatilität – indes stabile und langlebige Strukturen.»  

Grosser Druck auf Sozialarbeitende

Eser und Hartmann haben sich im Rahmen der Austauschrunden der Fachgruppe MNA auch die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeitenden genauer angeschaut. «Der Druck ist sehr gross», sagt Hartmann. «Die Bedingungen sind nicht so, wie es die Profession eigentlich erfordert, doch im Alltag muss man handeln.» Neben verbesserten Bedingungen regt Hartmann an, dass bei der Arbeit mit MNA eine Fallsupervision eingeführt wird: «Das ist sehr wichtig, wenn man mit derart vulnerablen und vorbelasteten Adressat:innen zu tun hat.»  

Zurzeit beschäftigt sich die Fachgruppe mit der Qualitätsentwicklung der Angebote in mehreren Kantonen. Zudem arbeitet sie in Kooperation mit dem Zentrum für Migrationsrecht der ZHAW School of Management and Law und der Universität Zürich an einem Postulat zum Kindeswohl im Asyl- und Ausländerverfahren im Auftrag des Bundesrats.  

Verschwundene Flüchtlingskinder

Ebenso forscht die Gruppe zum Phänomen der «verschwundenen» Flüchtlingskinder. Schätzungen zufolge werden in Europa über 10 000 unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche vermisst. Das betrifft auch die Schweiz: Laut einer ZHAW-Untersuchung gibt es Hinweise darauf, dass die Anzahl minderjähriger Geflüchteter, die ihre Asylunterkünfte unkontrolliert verlassen und untertauchen, in den letzten Jahren angestiegen ist.  

Das Phänomen gilt als wenig beleuchtet, obwohl die Minderjährigen aufgrund fehlender finanzieller Mittel und der daraus resultierenden Abhängigkeit von anderen Personen besonders exponiert sind. «Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass für sie nicht dieselben verbindlichen Massstäbe des Kindesschutzes angewandt werden», sagt Andrea Barbara Hartmann.