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Mami, Papi und Kind – oder: Was ist eigentlich eine Pflegefamilie?

Plätze für Pflegekinder zu finden, ist nicht einfach. Das hat auch mit einer traditionellen Vorstellung von Familien, wie es sie heute immer seltener gibt, zu tun.

Es tut sich etwas in der Pflegekinderhilfe und es zeichnet sich eine zunehmende Offenheit ab. (Illustration: Ina Jang)

Von Daniela Reimer, Alexander Knoll und Noëmi van Oordt

Mutter, Vater, Kinder, schweizerisch, christlich, Mittelschicht, ländlich, guter Leumund. Er ist erwerbstätig, sie erledigt den Haushalt und schaut zum Nachwuchs: So sah das traditionelle Familienbild hierzulande lange Zeit über aus. Das hat die Pflegekinderhilfe stark geprägt. Jedoch ist es auch eine Form von Familie, die heute immer seltener anzutreffen ist. Es verwundert daher nicht, dass es schwierig ist, Pflegefamilien zu finden – obwohl der Bedarf an solchen Plätzen hoch ist. 

Allerdings zeigt sich, dass sich die Pflegekinderhilfe für andere Familienformen und -bilder öffnet. So gibt es in der Schweiz mittlerweile alleinerziehende und gleichgeschlechtliche Pflegeeltern, solche mit Migrationshintergrund oder Pflegefamilien mit Verwandten. Diesen Prozess beobachten und begleiten wir als Forschende, zuletzt in der vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie «Bilder der Pflegefamilie». Diese hatte zum Ziel, zu verstehen, wie sowohl traditionelle wie auch aktuelle Bilder auf die Kooperationsprozesse in der Pflegekinderhilfe wirken.  

Idealbilder geben Sicherheit

Um das Thema breit zu untersuchen, führten wir in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz Gruppendiskussionen mit Fachpersonen der Pflegekinderhilfe durch. Die Befragten arbeiteten in Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, bei Dienstleistungsanbietern in der Familienpflege (DAF) und Fachverbänden oder sind Beistandspersonen. Darüber hinaus interviewten wir Pflegefamilienmitglieder, das heisst: Pflegekinder, -mütter und -väter sowie leibliche Kinder in Pflegefamilien. Ausserdem recherchierten und analysierten wir Zeitungsartikel aus der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz zum Thema.  

In den Gruppendiskussionen zeigte sich, dass Fachpersonen ein Idealbild von Pflegefamilien haben, das den eingangs genannten traditionellen Vorstellungen entspricht. Zusätzlich erwarten sie, dass die Pflegefamilien gut mit ihnen zusammenarbeiten und kommunizieren, bildungsbürgerliche Werte leben und generell offen eingestellt sind. Die Erwartungen geben Fachpersonen offenbar eine Sicherheit, Pflegekinder an einem guten Ort zu platzieren.

Blinde Flecken

In den Diskussionen wurde jedoch auch deutlich, dass diese Idealbilder zunehmend von der Realität abweichen. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft und damit die Pflegefamilien sind eigentlich vielfältiger. So berichten Fachpersonen von Pflegefamilien, die in nicht traditionellen Familienmodellen leben und nur teilweise den Anforderungen und Idealen entsprechen, dass diese beispielsweise weniger kooperativ seien als von ihnen idealerweise erwartet werde.  

Diese Differenz deutet auf Spannungsfelder hin und macht blinde Flecken sichtbar. Auffällig ist, dass Verwandtenpflegefamilien in den Gruppendiskussionen kaum im Fokus der Fachpersonen standen. Dies, obwohl sie in vielen Kantonen einen grossen Anteil aller Pflegefamilien ausmachen, in den Kantonen Zürich und Bern beispielsweise sind es rund 40 Prozent. Auch Familien mit Migrationshintergrund wurden kaum erwähnt. 

Realität diverser als Idealvorstellung

In den Einzelinterviews mit den Pflegefamilienmitgliedern trafen wir sehr unterschiedliche Familien an: solche mit traditioneller Rollenverteilung, ein gleichgeschlechtliches Paar, alleinerziehende Pflegemütter, berufstätige Pflegemütter oder solche, die ihren Wiedereinstieg in den Beruf planen. Auch Grosseltern waren darunter, die zu Pflegeeltern geworden sind.  

Ausserdem lernten wir Familien kennen, für die das Pflegefamiliesein ein Beruf oder eine Berufung ist, und andere, die als Pflegefamilie eine «normale» Familie sein möchten. Manche Pflegefamilien wünschen sich, dass ihre Pflegekinder mehr Zeit in der Kita beziehungsweise im Hort verbringen könnten, anderen ist es wichtig, selbst viel Zeit mit den Kindern zu Hause zu verbringen.  

Pflegemütter leisten viel

Drei grosse Themen zogen sich durch sämtliche Interviews: Erstens stellten wir fest, dass vor allem die Pflegemütter viel im Familienalltag leisten. Sie werden einerseits dafür gelobt und es wird anerkannt, dass sie der traditionellen Mutterrolle (weitgehend) entsprechen. Andererseits erleben sie hohe Erwartungen und Ansprüche, die bisweilen als überfordernd erfahren werden können.  

Zweitens verstehen sich Pflegefamilien teils als professionelle Sozialpädagog:innen, die temporär für ein Pflegekind sorgen, teils als Familien, die dem Pflegekind dauerhafte familiäre Zugehörigkeit bieten. Und drittens fiel auf, dass das Gelingen des Alltags stark davon abhängt, inwieweit die leiblichen Kinder von Pflegeeltern die Integration des Kindes und ihre Eltern unterstützen und Rücksicht nehmen auf die Besonderheiten der Familiensituation.  

Zugespitzte Medienberichte

Vieles von dem, was wir in Gruppendiskussionen hörten, wiederholte sich in den von uns analysierten Medientexten, bisweilen in zugespitzter Weise. Neben Berichten über die Strukturen der Pflegekinderhilfe und Skandalgeschichten über Behördenmissstände und Missbrauch vermischen sich in Medienberichten immer wieder professionelle und private Aspekte des Pflegefamilien-Seins.  

Die Familien wurden auch in den Berichten meist ländlich-traditionell gezeichnet, häufig wird ihnen implizit oder explizit die Rolle zugewiesen, dem Pflegekind einen positiven emotionalen Rahmen zu geben. Pflegekinder wurden unterschiedlich dargestellt: bald als Opfer, bald als spätere Straftäter:innen, bald als besonders Resiliente, die es geschafft haben, trotz schwieriger Erfahrungen ein gelingendes Leben zu führen.  

Mehr Offenheit

Mit unserem Forschungsprojekt erarbeiteten wir Grundlagenwissen über die Pflegekinderhilfe der Schweiz, das die Differenz zwischen Ideal und Realitäten von Pflegefamilien aufzeigt. Dabei konnten wir die Wirkungen und Nebenwirkungen von Erwartungen aufzeigen, besonders jene, die an Pflegemütter gerichtet sind. Ausserdem konnten wir das Spannungsfeld zwischen privater Lebensform und professionellem Anspruch an Pflegefamilien deutlich machen und darlegen, dass es Pflegefamilien gibt, die bislang wenig im Blick der Fachpersonen waren.  

Dieses Wissen kann nun genutzt werden, um mit Fachpersonen ihre Praxis und Weiterentwicklungsbedarfe zu diskutieren. Drei Workshops führten wir Ende 2023 und Anfang 2024 durch. Dabei ging es um die Themen Professionalität, Verwandtenpflege sowie Migration und Pflegekinderhilfe. Deutlich wurde dabei: Es tut sich etwas in der Pflegekinderhilfe und es zeichnet sich eine zunehmende Offenheit ab. Die Begleitung von Pflegefamilien mit Verwandten wird als Notwendigkeit erkannt und es wird diskutiert, wie dies gut gelingen kann.

Diskussionen angestossen

Die Professionalitätserwartungen an Pflegefamilien wurden von Fachpersonen kontrovers diskutiert und der Bedarf an einer gemeinsamen längerfristigen Auseinandersetzung dazu ist offensichtlich. Eine Diskussion darüber, wie Familien mit Migrationshintergrund als Pflegefamilien angesprochen werden können und welche Voraussetzungen für gelingende Platzierungen von Kindern mit Migrationshintergrund gegeben sein müssen, wurde ebenfalls initiiert.  

Gemeinsam mit den Projektpartner:innen von «Bilder der Pflegefamilie» – dazu gehören PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz, Bussola AG und die Fachstelle Kinderbetreuung Zentralschweiz – sowie weiteren interessierten Akteur:innen der schweizerischen Pflegekinderhilfe werden wir als Forschende diese Themen in den kommenden Jahren weiter vertiefen. Alles mit dem Ziel, dass Kinder in Pflegefamilien gut aufwachsen können.

Forschungsprojekt «Bilder der Pflegefamilie»

Daniela Reimer ist Dozentin und Forscherin an der ZHAW Soziale Arbeit. Gemeinsam mit Alexander Knoll und Noëmi van Oordt führte sie die vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie «Bilder der Pflegefamilie und ihre Wirkung auf Kooperationsprozesse in der Pflegekinderhilfe» durch. Die Studie wurde vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. 

Projektpartner sind Pflege- und Adoptivkinder Schweiz PACH, Bussola AG, Fachstelle Kinderbetreuung Luzern sowie das Département de l’instruction publique, de la formation et de la jeunesse des Kantons Genf. 

ZHAW-Forschungsdatenbank