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Sozialarbeitende, übernehmt Verantwortung!

Sie haben oft mehr Macht, als sie wahrhaben wollen. Gerade deshalb dürfen sich Sozialarbeitende nicht hinter Regeln und Akten verstecken.

Manipulative Gesprächsführung, Vorladungen ohne Begründung, unverständliche Formulare: Lauter Beispiele aus der Sozialen Arbeit für die Machthierarchie. (Fotos: Philotheus Nisch)

Von Michael Herzig 

Ein Schlüsselerlebnis. Vor etwas mehr als zwanzig Jahren eröffneten wir – das Sozialdepartement der Stadt Zürich, mein damaliger Arbeitgeber – den Treffpunkt t-alk für Alkoholiker:innen. Es war die erste solche Einrichtung in Zürich, die nicht trocken war, unsere Gäste durften Wein und Bier trinken. Ich war der Projektleiter und arbeitete nicht direkt vor Ort, ging aber oft hin.  

Bei einem dieser Besuche sprach die Betriebsleiterin gerade mit einem Gast. Ein auf der Gasse bekannter «Alki» mit einer Reputation als Schläger. Als ich mich zu den beiden gesellte, musterte mich der Mann von oben bis unten. Meine Erscheinung beeindruckte ihn nicht besonders. «Was ist denn das für ein Hurlibueb?», schnauzte er. «Pass auf», entgegnete die Mitarbeiterin, «das ist mein Chef.»  

Was für ein Zauberwort! Weg waren Gassenstolz und Imponiergehabe. Wegradiert von der Information, dass ich über Positionsmacht verfügte, dass ich das Budget des t-alk festlegte, die Hausordnung, die Öffnungszeiten, das Angebot. Dass ich mit einer Mausbewegung am Computer das Dossier unseres Klienten aufrufen und mich in sein Leben hineinklicken konnte, ohne mich mit ihm nach seinen Regeln messen zu müssen. Der Mann sackte in sich zusammen.  

Macht weg, Vertrauen da

Ich habe diese Szene vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Trotzdem dauerte es nach diesem Besuch im t-alk noch eine ganze Weile, bis ich mir meiner Macht bewusst geworden war, bis ich sie gezielter und reflektierter einsetzte, und dann noch einmal länger, bis mir klar wurde, dass ich sie auch wieder loswerden konnte, ohne etwas für mich Wesentliches zu verlieren.  

«Seit ich Adressat:innen Sozialer Arbeit in Forschungsprojekten befrage und gemeinsam mit ihnen im Bachelor unterrichte, bekomme ich immer wieder zu hören, wie sich Ohnmacht anfühlt.» 

Michael Herzig, ZHAW-Dozent am Institut für Sozialmanagement 

Als ich nach meinem Stellenwechsel ehemaligen Klient:innen begegnete, gab es angesichts meiner nun offensichtlichen Machtlosigkeit unterschiedliche Reaktionen. Einige verrieten mir, wie sie mich und meine Mitarbeitenden ausgetrickst hatten, wie sie sich unserer Kontrolle entzogen hatten. Vielleicht hätte mich dies früher geärgert, nun fand ich es lustig. Andere schoben mir alles Mögliche in die Schuhe, wofür ich nun wirklich nichts konnte, die Qualität des Stoffs in der heroingestützten Behandlung beispielsweise.  

Ein ehemaliger Klient und ein ehemaliger Mitarbeiter berichteten mir von anderen Mitarbeitenden, die mir unterstellt waren und die aus Sicht der beiden ihre Macht missbraucht hatten. Nun, da ich keine Macht mehr hatte, vertrauten sie mir Dinge an, die ich hätte ändern können, als ich noch in der Position dazu war, nur trauten sie mir damals nicht über den Weg – wegen der Macht, die ich hatte. Schade.  

Ideologie, Technologie, Bürokratie

Soziale Arbeit basiert auf der ungleichen Verteilung von Machtressourcen und Machtinstrumenten. Ohne Machtunterschiede bräuchte es keine Soziale Arbeit. Sozialarbeitende üben Macht aus, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Paradoxerweise häufig gerade dann, wenn sie versuchen, es nicht zu tun. Wenn sie den eigenen Handlungsspielraum klein reden und auf das Gesetz verweisen, auf Richtlinien, auf Abläufe, auf Standards und auf Weisungen. Was sie in diesen Fällen abzuschütteln versuchen, ist nicht Macht, sondern Verantwortung.  

Seit ich Adressat:innen Sozialer Arbeit in Forschungsprojekten befrage und gemeinsam mit ihnen im Bachelor unterrichte, bekomme ich immer wieder zu hören, wie sich Ohnmacht anfühlt. Wenn jemand bei einer Routineuntersuchung im Spital realisiert, dass das Pflegepersonal Informationen hat, die aus früheren Aufenthalten in der Psychiatrie stammen.  

Wenn der Gefängnisarzt eine ärztliche Verordnung ignoriert und einen Insassen im Justizvollzug von einem Tag auf den anderen eigenmächtig auf den kalten Entzug setzt. Wenn der Bericht der Hausärztin im Spital gar nicht erst gelesen wird, woraufhin es zu Komplikationen kommt, die auf den Drogenkonsum des Klienten zurückgeführt werden, aber eigentlich Ursache einer Unverträglichkeit sind und hätten vermieden werden können, wäre der Patient ernst genommen und der Bericht gelesen worden. 

Rassehygienischer Machtmissbrauch bei Jenischen

Negative Erfahrungen mit Ärzt:innen und Pflegepersonal sind kein Zufall, denn die Machtunterschiede sind hier besonders gross. Doch natürlich gibt es auch Erlebnisse aus der Sozialen Arbeit. Manipulative Gesprächsführung. Akteneinträge und Gefährdungsmeldungen, die nicht beschreiben, sondern beurteilen. Vorladungen ohne Begründung. Formulare, die ohne Unterstützung kaum ausgefüllt werden können. Gutachten und Entscheide in pseudowissenschaftlicher «Geheimsprache». Lebensweltferne Bürozeiten. Wartefristen, Warteschlangen.  

Das sind alles Beispiele aus meiner aktiven Berufstätigkeit. In den letzten acht Jahren befasste ich mich aber auch mit sozialarbeiterischem und sogenannt rassehygienischem Machtmissbrauch im 20. Jahrhundert. Daraus entstand das Buch «Landstrassenkind: Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr», das kürzlich im Limmat-Verlag erschien.

Die beiden waren Opfer der von Pro Juventute initiierten und gemeinsam mit Vormundschaftsbehörden, Sozialämtern und Psychiatrien umgesetzten Zwangsassimilierung von Jenischen. Mit Gewalt sollten sie verbürgerlicht, ihre Kultur sollte ihnen ausgetrieben werden. Zu diesem Zweck wurden Mutter und Sohn entwurzelt und einander entfremdet. Mit Mühe gelang ihnen die Versöhnung gerade noch vor Mariellas Tod im Jahr 2022.

Direkte und indirekte Gewalt

Was mich an dieser Geschichte interessierte, war einerseits die Beziehung zwischen den beiden. Wie sie mit ihren Versehrungen und ihren Traumata umgingen und wie diese sie gleichzeitig verbanden und spalteten. Andererseits wollte ich wissen, wie der Unterdrückungsapparat funktionierte, welche Machttechniken angewandt wurden.  

Sowohl Christian als auch Mariella Mehr haben massive körperliche Gewalt erfahren und überlebt. Soweit ich dies nachvollziehen konnte, wurde diese Gewalt aber weder von Pro Juventute noch von Behörden direkt ausgeübt. Die Übergriffe fanden in den Institutionen statt, die Behördenentscheide umsetzen sollten: Pflegefamilien, Heime, Kliniken, Gefängnisse.  

In anderen Fällen gibt es Hinweise auf direkte Gewalt von Pro-Juventute-Mitarbeitern. Der Gründer von «Kinder der Landstrasse» wurde in den 1910er-Jahren vor seiner Tätigkeit bei Pro Juventute wegen eines Sexualdelikts verurteilt, sein Nachfolger in den 1960er-Jahren während seiner Anstellung bei Pro Juventute.  

Kampf gegen Kultur und soziale Klasse 

Bei meinen Recherchen trieb mich die Frage um, was diese direkte physische Gewalt überhaupt erst ermöglichte. Mittlerweile würde ich sagen, dass es einer mehrheitsfähigen Ideologie bedurfte, einer geeigneten Informationstechnologie zu ihrer Verbreitung sowie eines bürokratischen Verwaltungsapparats zu ihrer Umsetzung.  

Die Verfolgung der Jenischen wurde in der Schweiz sowohl mit rassistischen als auch mit sozialdarwinistischen und sozialhygienischen Argumenten vorangetrieben. Es war ein Kampf gegen eine Kultur und gegen eine soziale Klasse. Dabei ging es vor allem darum, über die jenischen Frauen und ihre Kinder zu verfügen.  

Unfassbarer Verwaltungsapparat

Was die verwendeten Informationstechnologien anbelangt, waren innerhalb des Systems die Akten das Mittel, womit Fakten geschaffen wurden. Wie manipulativ die Täter:innen vorgingen und wie verheerend dies für ihre Opfer war, zeigen Sara Galle und Thomas Meier in ihrem 2009 erschienenen Band «Von Menschen und Akten». Für mein Buch habe ich über tausend Seiten Akten konsultiert. Darin habe ich direkte Lügen gefunden, gezielte Verzerrungen und tendenziöse Darstellungen, deren Wahrheitsgehalt kaum überprüfbar ist. Nach aussen hin wurde diese Praxis durch Referatstätigkeit legitimiert, durch eigene Publikationen und durch Aussagen in den Medien.  

Der Verwaltungsapparat blieb für die Betroffenen weitgehend unfassbar. Sie wussten nicht, wer wann auf Basis welcher Information welchen Entscheid traf. Sie erhielten keine Akteneinsicht, keine Besprechungstermine. Ihre Korrespondenz wurde weder beantwortet noch weitergeleitet. Sie wurden abgewimmelt und angelogen. Sie waren einer unsichtbaren Macht ausgesetzt, die überall und jederzeit zuschlagen konnte.  

Macht ohne Verantwortung

Bis heute wurde niemand für die Verwerfungen im Rahmen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zur Verantwortung gezogen. Zwar gab es Entschuldigungen und eine sogenannte Wiedergutmachung in Form eines Geldbetrags, wofür die Betroffenen peinlich genau nachweisen mussten, dass sie auch wirklich genug gelitten haben. Aber niemand wurde belangt, Pro Juventute wurde nicht aufgelöst, nicht einmal eine Namensänderung drängte sich auf.  

Wie kann es sein, dass Menschen Gewalt angetan wird, ohne dass die Verantwortlichen bestraft werden? In einem Land, in dem alle paar Jahre Volksinitiativen zur Strafverschärfung lanciert werden? Liegt es am Geld, der Nationalität, dem Geschlecht, der Parteizugehörigkeit? Vielleicht auch. Vor allen Dingen aber liegt es an der Bürokratie.  

Bürokratie diffundiert Verantwortung

Die Philosophin Hannah Arendt bezeichnete in ihrem 1970 erschienenen Buch «Macht und Gewalt» die Bürokratie als tyrannischste aller Herrschaftsformen, weil in bürokratischen Systemen niemand zur Verantwortung gezogen werde. Bürokratie sei die «Herrschaft des Niemand». Arendt prägte diesen Begriff unter anderem aufgrund ihrer Erkenntnisse über das Funktionieren des deutschen Nationalsozialismus. Anlässlich des Prozesses von 1961 in Israel gegen Adolf Eichmann, der während des Holocausts Verfolgungen, Vertreibungen und Deportationen geplant und organisiert hatte, sprach Arendt von der «Banalität des Bösen». Sie wollte damit ausdrücken, dass Eichmann ein Schreibtischtäter war, ein mörderisches Instrument innerhalb einer mörderischen Bürokratie, was ihr als Verharmlosung ausgelegt wurde.  

Ich finde nicht, dass das Böse seinen Schrecken verliert durch die Erkenntnis, dass es banal sein kann. Mir scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Für Hannah Arendt wird Macht gegeben, nicht genommen. Wer sich Macht gegen Widerstand nimmt, wendet Gewalt an und ist im Grunde genommen machtlos. Macht bedeutet immer auch Verantwortung. Durch Gewalt können sich Menschen ihrer Verantwortung entziehen. Der Bürokratie kommt dabei die Rolle zu, Verantwortung zu diffundieren und Gewalt zu kaschieren.

Bürokratisch getarnte Gewalt

Übertragen wir diese Überlegung auf die Soziale Arbeit, wird es nachvollziehbar, weshalb Menschen auf Regeln, Verfahren und Formulare aggressiv reagieren. Sie begegnen Gewalt mit Gegengewalt. Das Perfide dabei ist, dass die Gegengewalt offensichtlicher ist als die ursächliche Gewalt. Verurteilt und belangt wird daher meistens die Gegengewalt und nicht ihre bürokratisch getarnte Form. Legitim sind sie beide nicht, doch die Schreibtischtäter:innen kommen häufig davon, das System wird selten angetastet.  

Wenn Sozialarbeitende Regeln, Verfahren und Formulare restriktiv oder zum Nachteil ihrer Klient:innen anwenden, anstatt den immer auch vorhandenen Handlungsspielraum auszuschöpfen, dann üben diese Sozialarbeitenden bürokratisch getarnte Gewalt aus. Wenn Vorgesetzte über Regeln, Verfahren und Formulare führen anstatt durch partizipative Prozesse, weil diese mühsam sind und Mitarbeitende gute oder sogar bessere Argumente haben, die zu ignorieren bequemer ist, dann üben diese Vorgesetzten bürokratisch getarnte Gewalt aus.  

Darum mein Appell an Sozialarbeitende, Sozialarbeitsstudierende, Sozialarbeitsdozierende, Sozialmanager:innen und Vorgesetzte: Seien Sie jemand, verstecken Sie sich nicht hinter Regeln, Verfahren und Formularen, üben Sie keine bürokratisch getarnte Gewalt aus. Stehen Sie zu Ihrer Macht und übernehmen Sie Verantwortung!  

Buch zu zwei Opfern der Aktion «Kinder der Landstrasse» 

Michael Herzig ist Dozent und Projektleiter an der ZHAW Soziale Arbeit. Ausserdem schreibt er Bücher, Drehbücher und spielt in mehreren Bands. Sein neustes Buch «Landstrassenkind: Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr» ist 2023 im Limmat-Verlag erschienen.