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Wahrheit – eine wandelbare Übereinkunft?

ZHAW-Experten der Sozialen Arbeit, der Kommunikationswissenschaften und der Chemie sprachen über Wahrheitsfindung und Wirklichkeitskonstruktionen in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft.

ZHAW-Experten im Gespräch: (v.l.n.r.) Prof. Christian Hinderling, Prof. Peter Stücheli-Herlach und Dirk Baier

Auszug aus ZHAW-Impact vom Dezember 2017

Wer ist heute noch glaubwürdig?

Dirk Baier: Den einen glaubwürdigen Akteur für die ganze Gesellschaft gibt es wohl nicht. Wenn ich mich dennoch festlegen müsste, würde ich sagen: die Wissenschaft.

Christian Hinderling: Auch wenn die Wissenschaft durchaus Interessenströmungen ausgesetzt ist, die man im Auge behalten muss, würde ich auch die Wissenschaft nennen.

Peter Stücheli-Herlach: Für mich müssen erst ein paar Vorabfragen geklärt sein: Warum brauchen wir Glaubwürdigkeit für unser Leben? Wie überprüfe ich Glaubwürdigkeit für mich? Glaubwürdigkeit ist für mich nicht in erster Linie ein moralisches oder philosophisches Problem, sondern ein Kommunikationsproblem: Wessen Rat befolge ich? Inwiefern engagiere ich mich selbst, um mich über die Welt ins Bild zu setzen, und mit welchen Methoden tue ich das?

Und wenn alle diese Fragen beantwortet sind, für wen entscheiden Sie sich dann?

Stücheli-Herlach: Glaubwürdig sind für mich Kinder, die die Welt beobachten und kluge Fragen stellen. Forschende, die nicht einen Trend nachäffen, sondern methodisch um Erkenntnis ringen. Politiker und Politikerinnen, die reflektierte Vorstellungen über das Zusammenleben haben und nicht einfach den jüngsten Wahlslogan repetieren.

Sie müssen weit ausholen. Steht es schlecht um die Glaubwürdigkeit?

Hinderling: Generell glaube ich nicht, dass es um die Glaubwürdigkeit heute schlechter bestellt ist als früher. Ich habe eher das Gefühl, dass wir damit anders umgehen. Mir scheint es, als werde es eher toleriert, wenn Leute die Unwahrheit sagen. Geschwindelt wurde aber schon immer.

Baier: Wir neigen generell aber gerne dazu, zu meinen, dass alles immer schlimmer wird – ich nenne das Immerschlimmerismus. Es heisst: Glaubwürdigkeit nimmt ab, oder Sicherheit nimmt ab. Dabei stimmt das gar nicht, wenn wir bevölkerungsrepräsentative Daten anschauen. Unsere Gesellschaft wird gar nicht unsicherer. Und wenn man Menschen ganz direkt fragt, stellt sich heraus, dass die Angst vor Kriminalität zum Beispiel rückläufig ist. Wir sind schnell dabei, Probleme zu konstruieren, wo keine sind. Spannend ist auch, wie Berufsgruppen daran mitarbeiten. 

An welche Gruppen denken Sie da?

Baier: Wenn man Polizisten fragt: Was glauben Sie, für wie glaubwürdig halten Sie die Leute? Dann sagen diese: Die Bevölkerung mag uns nicht, uns vertraut niemand mehr. De facto trauen aber 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung der Polizei.

Im Zusammenhang mit Migration werden Ängste geschürt, kriminelle Asylbewerber ins Feld geführt, obwohl Statistiken ein anderes Bild zeichnen. Weshalb haben wir Angst wider besseres Wissen?

Baier: Manchmal kennt man die Statistiken nicht. Manchmal ist es ein diffuses Gefühl. Aus einigen Untersuchungen wissen wir, dass dieses «gefühlte Wissen» sehr medial konstruiert ist. Wir persönlich haben so gut wie keine Erfahrung mit Kriminalität. In der Regel haben wir erst recht keine Erfahrung damit, dass wir von Personen fremder Herkunft angegriffen werden. Dieses Wissen kommt vermittelt an. Das Wesen von Medien ist, dass sie bestimmte Filter und Selektionskriterien haben, die zu verzerrten Darstellungen der Wirklichkeit führen. 

Medien helfen doch aber auch mit, Wahrheit aufzudecken?

Baier: Natürlich. Ich meine damit die Systemlogik, die dahintersteckt. Bestimmte Formen von Kriminalität sind völlig überrepräsentiert in den Medien. Das grösste Missverhältnis sehen wir bei Sexualdelikten gegen Kinder. Diese Delikte sind extrem selten. Wenn dann aber ein solches Verbrechen geschieht, dann beschäftigen wir uns wochenlang damit. Das hinterlässt Spuren in den Köpfen der Menschen, spricht bestimmte Urängste an, etwa die Angst, selbst getötet zu werden.

Kürzlich waren die Mädchen in den Schlagzeilen, weil immer mehr Mädchen Ladendiebstahl begehen. Müssen wir jetzt auch Angst vor ihnen haben?

Baier: Gerade am Beispiel der Jugendkriminalität sehen wir die grösste Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Bevölkerung. Wenn man Menschen fragt: Steigt Ihrer Meinung nach Jugendkriminalität? Dann antworten 90 Prozent der Befragten, dass Jugendkriminalität und Jugendgewalt zunehmen. Die Wahrheit ist: Jugendgewalt hat sich in den letzten fünf bis sieben Jahren halbiert. Also eine ausgesprochen positive Entwicklung. Diese Nachricht kommt bei der Bevölkerung aber nicht an. Vielmehr dominiert in den Medien, wenn jemand nach einer durchzechten Nacht erstochen wird – was in Wirklichkeit sehr, sehr selten vorkommt. Der Leser schliesst dann vom Einzelfall auf das Allgemeine. Er selbst hat ja in der Regel keine eigene Erfahrung. Die Jugendlichen in seiner Nachbarschaft sind ja eigentlich alle ganz nett. Schuld an dieser Wahrnehmung sind natürlich nicht allein die Medien.

Was tragen Sie zur Aufklärung bei?

Baier: Ich versuche, viele Vorträge zu halten. Dabei sieht man dann schon viele erstaunte Gesichter: «Ah, das sieht ja viel besser aus. Weshalb machen wir uns so viele Sorgen?», höre ich mitunter. Wir als Wissenschaftler sollten da sicher noch mehr Öffentlichkeit schaffen.

Stücheli-Herlach: Das finde ich treffend, wie du diese Medienlogik im Umgang mit Kriminalitätsfragen beschreibst. Und wegen der grossen Gefahr der komplett einseitigen Weltwahrnehmung ist es so wichtig, dass wir alle an Öffentlichkeit mitarbeiten. Wir können es nicht allein den journalistischen Medien überlassen. Wir als Wissenschaftler und wissenschaftliche Institutionen müssen uns in diese Diskussionen einschalten und andere Perspektiven aufzeigen.

Das klingt so optimistisch. Wollen die Leute aufgeklärt werden? Oder wollen viele nicht einfach ihr eigenes Weltbild bestätigt sehen?

Stücheli-Herlach: Das ist eine von vielen möglichen Erklärungen dafür, dass die Logik der Medienkommunikation so ist, wie Dirk Baier sie gerade beschrieben hat. Trotzdem müssen wir es doch versuchen, Debatten zu führen. Auch Kontroversen erzeugen Aufmerksamkeit!

Baier: Ich denke, wie offen die Leute sind, ist milieuabhängig. Ich selbst erlebe bei Vorträgen, dass es im Publikum weite Teile gibt, die bereit sind, neue Fakten zu akzeptieren. Es gibt aber auch andere. Es steht immer jemand auf und sagt: «Das kann doch nicht sein, was Sie da erzählen.» Interessanterweise sind das öfter Richter, die sagen: «Auf meinem Schreibtisch sieht das ganz anders aus.» Aber auch in manch anderen Milieus, wo Meinungen zementiert sind, kommt man mit Argumenten nicht weiter.

Der Ruf, Politik solle zur Wahrheit zurückkehren, wird immer lauter.

Stücheli-Herlach: Der Ruf nach glaubwürdigen Politikern ist verständlich. Verknüpft man aber Glaubwürdigkeit mit Wahrheit, würde man von falschen Voraussetzungen ausgehen. Die Wissenschaft ist es, welche die Frage der Wahrheit zentral verhandelt. Politik hingegen klärt die Frage der Macht. Es ist wichtig, dass es eine funktionierende Politik im Sinne einer institutionalisierten, kultivierten Auseinandersetzung um Macht gibt, weil sich unsere Gesellschaft darauf verständigt hat, dass sich Menschen nie einigen können und auch nie einigen sollen, was die letztgültige Wahrheit ist. Die Suche nach guten Annäherungen ist Aufgabe der Wissenschaft, während die Politik entscheidet, wie stark sie die Wissenschaft unterstützen will. Sie muss dabei von Wertsetzungen und Einschätzungen in Bezug auf die Zukunft ausgehen, die nie rein «faktenbasiert» ist. Denn Zukunft ist nichts, was sicher ist, wir können sie nur gestalten. Also erwarten wir von der Politik nicht die «Wahrheit», sondern ein kluges Entscheiden für das Gemeinwohl. Vor allem: Engagieren wir uns selber dafür!

Dann dürfen Politiker das Blaue vom Himmel versprechen?

Stücheli-Herlach: Demokratische Politik darf natürlich nicht lügen und nicht bewusst in die Irre führen. Aber ihr Wesen ist es, dass sie mit unsicheren Prognosen, Vermutungen und Wertsetzungen arbeiten muss

Gewinnen wenigstens Naturwissenschaftler durch objektive Erkenntnisse ein immer vollständigeres Bild der Wirklichkeit?

Hinderling: Der Begriff der Wahrheit hängt ganz stark mit dem Begriff der Unabhängigkeit zusammen. Und da ist die Wissenschaft natürlich auch von der Politik abhängig, beispielsweise wegen der finanziellen Förderung. Davon abgesehen machen auch wir Wissenschaftler uns ein Bild der Wirklichkeit in der Physik oder der Chemie. Wir erstellen ein Modell. Es bleibt aber ein Modell und ist damit unvollständig. Je besser aber das Modell ist, umso genauer sind die Vorhersagen, die wir damit erreichen können. Experimente geben eine Antwort. Aber natürlich hängt diese Antwort auch davon ab, welche Frage man an das Experiment stellt. Da bringt ein Wissenschaftler schon einen Teil der eigenen Anschauung mit ein. Die Geschichte der Wissenschaft ist ja auch voll von Episoden, wo Resultate von Experimenten im Licht der eigenen Erwartungen interpretiert wurden. Ich denke, die Naturwissenschaften haben das Potenzial, der Wahrheit näherzukommen. Aber man muss diese Wahrheiten immer wieder kritisch hinterfragen.

Ist auch der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft nur eine historisch wandelbare Übereinkunft?

Stücheli-Herlach: Ja, und glücklicherweise ist die Wissenschaft nicht mehr die Hüterin der ewig gültigen Wahrheit wie zu repressiven Zeiten. Sie trifft jeweils vorübergehende Übereinkommen über das Wahre, die immer revidierbar sind. Als positivistische Wissenschaft tut sie es mit vorübergehend gültigen Modellen, als konstruktivistische und pragmatische Wissenschaft tut sie es mit vorübergehenden Angeboten zur Reflexion und Problemlösung, um Handeln zu ermöglichen. Wir als angewandte Wissenschaften tendieren zum Konstruktivismus und zum Pragmatismus.

Hinderling: Ich gebrauche etwas andere Begrifflichkeiten. Der positivistische Ansatz ist für mich der Grundlagenforschung nahe, und der konstruktivistische Ansatz, das wäre dann die Entwicklung und Umsetzung. Ich finde, Grundlagenorientierung und Anwendungsorientierung dürfen keine Gegensätze sein. Fragen aus den Anwendungen initiieren neue Grundlagenforschung. Neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung inspirieren neue Anwendungen, vielleicht auf völlig anderen Gebieten.

Stücheli-Herlach: Sehr einverstanden mit solchen Differenzierungen.Das Entscheidende bleibt die Unab­hängigkeit der Wissenschaft. Deshalb, so meine ich, sollten wir über die Entwicklung einer «Akademie­ der Wissensanwendungen» diskutieren. Diese brauchen wir. Hier stellen sich gewaltige Herausforderungen, etwa in der Systematik von Forschungskommunikation, Evaluation und Beratung. Und wir müssen zeigen, dass die Anwendung von Wissen letztlich der Wahrheit verpflichtet ist – und weder der Kommerzialisierung von Wissen noch der Manipulation von Politik.

Aktuelle Ausgabe des ZHAW-Impacts Nr. 39

«Wahrheiten» lautet das Dossierthema der Ausgabe Nr. 39 des Hochschulmagazins ZHAW-Impact. Eine Auswahl der Themen: Was ist wahr an Fake News? Was ist Wahrheit überhaupt? Wie halten Sie es mit der Wahrheit und wer ist heute noch glaubwürdig? Wahr ist etwas immer nur solange, bis es andere widerlegen und neue Erkenntnisse liefern. In diesem Magazin wollen wir Ihnen also keine alternativen Fakten, sondern Alternativen zu Fake News bieten.

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