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Vom Flüchtling zum ZHAW-Studenten: «Man muss ein Ziel haben»

Vor 14 Jahren floh Tumizghi Debesay aus Eritrea in die Schweiz. Seit diesem Semester studiert er Soziale Arbeit.

Fand den Weg in die Schweiz mit nichts als einer Landkarte in der Tasche: ZHAW-Student Tumizghi Debesay. (Zürich, 24. September 2020)

von Regula Freuler

Tumizghi Debesay macht eine wellenförmige Bewegung mit der Hand, als wäre sie das Wasser, das sich einen Weg durch die Landschaft bahnt. Mit der Geste antwortet der 38-Jährige auf die Frage, wie er von Eritrea in die Schweiz gekommen ist. Er lacht kurz, es klingt etwas verlegen, und verzieht dann das Gesicht. Die Erinnerung an die Flucht ist keine schöne, wie könnte es anders sein. Umso bemerkenswerter ist die Geschichte, die darauf folgte: Debesay arbeitet in Zürich nach der entsprechenden Ausbildung als Dolmetscher und Kulturvermittler. Seit diesem Semester studiert er Soziale Arbeit an der ZHAW im Toni-Areal, wo wir uns am Abend nach seiner letzten Vorlesung treffen.

Ein ganzes Jahr hat es gedauert von dem Moment, als er sich in Zoba Debub, der südlichen Region des Landes, nicht mehr zum Militärdienst zurückmeldete bis zu jenem Tag im November 2007, als er in Chiasso aus dem Zug stieg und bei den Schweizer Behörden Asyl beantragte. Seine Route – oft ging er zu Fuss – führte ihn durch Äthiopien, den Sudan, die Sahara, Libyen, über das Mittelmeer bis an einen Strand irgendwo in Sizilien, wo sein kleines, überfülltes Boot nachts unbemerkt ankam. Drei Tage später war er an der Schweizer Grenze.

Nicht alle, denen er auf der Flucht begegnete, haben es geschafft. «Ich wusste natürlich, dass es sehr gefährlich ist, aber wenn man keine Perspektive und keine Alternative hat, dann heisst es: Besser unterwegs sterben als im Gefängnis oder im Militär.»

Als Menschen angesehen

Gehören Mobiltelefone heute zu den wichtigsten und manchmal sogar einzigen Dingen von Migranten auf der Flucht, hatte Tumizghi Debesay vor 14 Jahren bloss eine Landkarte in der Tasche. Warum wollte er in die Schweiz? «Ich sah das Kreuz auf der Karte. Es war dasselbe wie bei den Lastwagen, die uns in Eritrea Essen gebracht hatten», erzählt er. Die Lieferungen des Schweizerischen Roten Kreuzes kannte er, über dessen Ursprungsland wusste er nichts.

Er habe viel Glück gehabt, sagt der junge Mann. Nach vier Monaten im Durchgangszentrum in Bauma kam er nach Hütten, ganz im Süden des Kantons Zürich, eine Ortschaft mit 900 Einwohnern. Dort, wo vor einigen hundert Jahren Katholiken und Reformierte aufeinander eindroschen, begann Debesays Integration. Halbtags verkaufte er das Strassenmagazin «Surprise», die andere Hälfte des Tages über lernte er Deutsch, und jeden Freitag gab es einen Computerkurs. «Sie haben uns als Menschen gesehen», sagt er.

«Vielleicht» heisst nicht unbedingt «vielleicht»

Zwei Jahre vergingen, dann kam der positive Asylbescheid, und er zog nach Zürich Stadt. Dort verkaufte er weiterhin das Strassenmagazin und legte Deutschprüfungen ab. Nebenbei half er immer wieder Landsleuten beim Ausfüllen von Formularen oder bei Gängen aufs Amt. So wurde man bei der Beratungsstelle Infodona auf ihn aufmerksam und empfahl in bei der Fachorganisation AOZ für eine Ausbildung zum Dolmetscher.

Als er das erzählt, macht sich ein Lachen auf seinem Gesicht breit: «Das ist einer der Unterschiede zwischen Eritrea und der Schweiz: Wenn hier jemand vorschlägt, ob man ein Integrationsprogramm machen wolle, dann heisst das, man soll es machen. In Eritrea hiesse es einfach, dass man wählen kann.» Seit er Mitte September sein Studium an der ZHAW begonnen hat, lernte er weitere «Codewörter», wie er sie nennt. Zum Beispiel: vielleicht. «Wenn Schweizer Dozierende ‹vielleicht› sagen, dann wird es wichtig, dann muss man gut aufpassen», sagt er. Bei den deutschen Dozierenden sei das anders, bei denen heisse «vielleicht» bloss «vielleicht».

Kurse für alle

Sein gutes Sprachgefühl und sein Sinn für kulturelle Feinheiten verhalfen Tumizghi Debesay nicht nur zum Beruf des Dolmetschers, sondern auch zum Integrationsexperten. So leitet er seit mehreren Jahren Swiss-Skills-Kurse bei der AOZ. Die Kurse entstanden ab 2013 für Geflüchtete in der Stadt Zürich.

Swiss-Skills-Kurse gab es zunächst für die Bereiche Schule und Kinder, dann kamen Wohnen und Arbeiten dazu und 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, schliesslich Orientierung in der Gesellschaft. «Das ist der wichtigste», ist Debesay überzeugt. «Wie man eine Wohnung googelt oder einen Job, ist einfach, aber wie man beides bekommt, das ist schwierig.»

Nachdem sich Bund und Kantone im Frühjahr 2018 auf die Integrationsagenda geeinigt hatten, beginnt die Erstinformation im Kanton Zürich seit letztem Jahr schon im Durchgangszentrum. Derzeit befinden sich in den vier kantonalen Zentren insgesamt rund 320 Menschen. Die meisten Erwachsenen besuchen eines der Swiss-Skills-Informationsangebote.

«Die Gleichstellung Mann und Frau kann man nicht einfach als Fakt darstellen und sagen: So ist es halt in der Schweiz.»

Irene Rodriguez, Leiterin Soziale Integrationsprojekte, AOZ

Die Kurse finden in der Muttersprache der Teilnehmenden statt, angeboten werden zurzeit vor allem Tigrinya, Arabisch sowie Dari beziehungsweise Farsi. Die Vorteile von muttersprachlichen Kursen sind evident: Man kann in die Tiefe gehen und über komplexe Themen reden. «Erst dann macht es Klick», sagt Irene Rodriguez, Leiterin Soziale Integrationsprojekte bei der AOZ, am Telefon.

Ein häufiger Diskussionspunkt seien die Geschlechterrollen. «Die Gleichstellung Mann und Frau kann man nicht einfach als Fakt darstellen und sagen: So ist es halt in der Schweiz», sagt Rodriguez. «Um das zu verstehen, braucht es sprachlich schon sehr viel Sprachkompetenz, selbst für Leute mit Deutsch-Niveau B2 ist es kaum vermittelbar.»

Herausfinden, was einem wichtig ist

Tumizghi Debesay hat eine ähnliche Erfahrung gemacht: «Ich kam in Zürich an und sah, wie zwei Männer sich küssten. Das hat mich schockiert.» In Eritrea ist Homosexualität illegal und wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren gebüsst.

Auch dass Frauen in der Schweiz gleichberechtigt sind und eritreische Frauen manchmal noch vor ihren Ehemännern einen Job finden, bereitet Letzteren oftmals Mühe. Zu Themen wie Homosexualität oder Geschlechterrollen sind allerdings auch in der Schweizer Bevölkerung die Meinungen nicht einhellig.

Inzwischen bewegt Debesay sich fliessend zwischen den Kulturen. Zum Beispiel lebt er nicht in traditionellen Familienstrukturen: Er wohnt als alleinerziehender Vater mit seinem 16-jährigen Sohn, der 2014 ebenfalls in die Schweiz floh, am Stadtrand von Zürich. Dennoch, das betont er, gehe es nicht darum, seine Identität wegzuwerfen, wenn man in ein fremdes Land emigriere. Man müsse für sich herausfinden, was einem wichtig sei. Und: «Man muss ein Ziel haben, sonst ist man verloren.»

Interesse an Rechtskunde

Wie sieht es mit seinen Zielen aus? Ursprünglich wollte er Jura studieren. Sein Grossvater war Anwalt. Er erzählte seinem Enkel von menschlichen Schicksalen und schärfte seinen Sinn für Gerechtigkeit. Aber als der eritreische Staat Tumizghi Debesay ins Militär einzog, war klar, dass er niemals ein Jurastudium wird absolvieren können.

Jetzt versucht er, sein Interesse an Rechtskunde auf anderem Weg beruflich umsetzen zu können. Themen wie Kindes- und Erwachsenenschutz beschäftigen ihn besonders. Er hat bereits den CAS Kommunizieren und handeln im interkulturellen Kontext absolviert und dort seine Abschlussarbeit zu Fremdplatzierung von ausländischen Kindern geschrieben.

Dank einer erfolgreich absolvierten Deutschprüfung – Debesay hat jetzt mit C2 das höchste Niveau erreicht – und einem einjährigen Stipendium von Stadt und Kanton Zürich kann er seine Tätigkeit als Dolmetscher und Kulturvermittler vorübergehend pausieren und sich auf sein Studium in Sozialer Arbeit konzentrieren. Für danach hat er zwei alternative Pläne. Einer ist ein Engagement hier in der Schweiz für ausländische Kinder. Aber am liebsten möchte er in Eritrea eine Stiftung für Kinder gründen – sofern er denn irgendwann dorthin zurückkehren kann. «Wir werden sehen, wie es kommt», sagt Tumizghi Debesay. Er wirkt zuversichtlich.

Weiterbildung zur Integrationsagenda Schweiz (IAS)

Die ZHAW Soziale Arbeit bietet Weiterbildungen zum Thema «Ressourcenorientierte Begleitung im Rahmen der IAS» an. Die Weiterbildungen sind massgeschneidert, das heisst sie beziehen die spezifische Situation im jeweiligen Kanton mit ein. Dazu gehören unter anderem die kantonale Strategie zur Umsetzung der IAS, institutionelle Zuordnungen und die Organisation auf Gemeindeebene. Bei unserem Angebot passen wir die Inhalte auf die entsprechenden Bedingungen und Bedürfnisse an.

Kontakt: Claudia Kunz Martin und Eva Mey