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Armes reiches Land

Nicht heizen, nie im Restaurant essen, auf den Franken genau budgetieren: Trotz staatlich regulierter Altersvorsorge leben in der Schweiz 50 000 ältere Menschen in schwerer Armut. Warum das so ist – und was wir dagegen tun könnten.

Die Erfolgsgeschichte der AHV führte zum falschen Narrativ, es gebe in der Schweiz keine Altersarmut. (Fotos: Noelle Guidon)

Von Rainer Gabriel

Die gute Nachricht zuerst: Was Existenzsicherung im Alter angeht, war das letzte Jahrhundert für die Schweiz eine Erfolgsgeschichte. Um 1900 wurde praktisch bis zum Lebensende gearbeitet, und wer nicht mehr für sich selbst sorgen konnte, musste auf die Unterstützung der Familie zählen. Auch zum Zeitpunkt der Einführung der ersten staatlichen Altersvorsorge im Jahr 1948, der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), war Altersarmut noch weit verbreitet. Heute haben die meisten Pensionierten hingegen ein gesichertes Einkommen, besitzen Häuser, haben Erspartes.

Doch nicht nur der AHV beziehungsweise dem Drei-Säulen-System, das 1972 im Gesetz verankert wurde, ist dieser Fortschritt zu verdanken. Auch das gestiegene Bildungsniveau, die zunehmende Berufstätigkeit von Müttern und der Umstand, dass mehr Menschen in besser bezahlten Büroberufen und weniger in der Landwirtschaft oder in der Fabrik arbeiten, haben dazu beigetragen.

Diese Erfolgsgeschichte führte zu einem falschen Narrativ, das bis heute kursiert: Dass es Altersarmut in der Schweiz, diesem wohlhabenden, idyllischen Land, praktisch gar nicht gebe. Und wenn doch, dass es sich dabei nur um vereinzelte «armi Sieche» handle, die entweder Pech im Leben hatten oder – zumindest teilweise – selbst schuld seien. Wie konnte es dazu kommen? Im Jahr 2008 publizierte das Bundesamt für Sozialversicherungen einen Forschungsbericht über die wirtschaftliche Situation von Personen im Erwerbs- und Pensionsalter.

Unter anderem verglich man den Anteil von Personen mit mehr als einer Million Franken Vermögen. Dieser lag bei den Pensionierten etwa dreimal so hoch wie bei den Erwerbstätigen. Lauffeuerartig verbreitete sich in den Medien die Nachricht: Den Alten geht es blendend, während viele Jungen untendurch müssen. Der Mythos der «reichen Alten» war geboren. Sozialpolitisch wurde die Frage der Alterssicherung zu diesem Zeitpunkt weitgehend unter «Mission erfüllt» verbucht.

Stereotyp der «reichen Alten»

Nur ein Jahr später veröffentlichte die Stiftung Pro Senectute Schweiz ihre Armutsstudie «Leben mit wenig Spielraum». Darin berichteten Sozialarbeitende von ihren Erfahrungen mit armutsbetroffenen Senior:innen. Die Studie zeigte deutlich: Es gibt sie eben doch noch, die Altersarmut, auch wenn es den meisten Pensionierten gut oder sogar sehr gut geht. Dennoch hielt sich das Stereotyp der «reichen Alten», es wurde bloss neu verpackt. In einer grossen Armutsstudie von 2014 hält das Bundesamt für Statistik fest, dass die Armutsquote der älteren Bevölkerung zwar rund doppelt so hoch liegt wie diejenige der Erwerbsbevölkerung. Jedoch wird argumentiert, dass diese Bevölkerungsgruppe über besonders hohe Vermögenswerte verfüge, die notfalls verbraucht werden können. Auch die Aktualisierung dieser Studie im Jahr 2020 wiederholt dies, obwohl beide Untersuchungen keine Aussagen darüber machen, inwiefern der Kompensationseffekt tatsächlich für die einkommensschwachen Senior:innen zutrifft. 

Im vergangenen Jahr beauftragte Pro Senectute Schweiz uns – ein Forschungsteam der ZHAW Soziale Arbeit – damit, ihre Armutsstudie zu aktualisieren. Mit dem Altersmonitoring, das wir gemeinsam mit der Universität Genf erstellten, konnte aufgezeigt werden, dass im Jahr 2022 ganze 14 Prozent der Senior:innen weniger als 2400 Franken pro Person und Monat zur Verfügung haben und darum als arm gelten. Dies sind rund 300 000 Pensionierte, also etwas mehr als die Bevölkerung des Kantons Basel-Landschaft.  

Einmal benachteiligt, immer benachteiligt

Noch viel besorgniserregender: Darunter befinden sich 46 000 Personen, die keinerlei nennenswertes Vermögen – auch keine Immobilien – besitzen, mit dem sie ihre Situation verbessern könnten. Es handelt sich also nicht nur um vereinzelte Schicksale, sondern es liegt ein strukturelles Problem vor. Weiterführende Analysen zeigten, dass Frauen, Personen ohne obligatorische Schulbildung sowie Personen mit Migrationshintergrund besonders häufig betroffen sind.

Wie kommt es, dass so viele Menschen in einem Land mit gut ausgebauter Altersvorsorge arm sind? Ein Teil der Antwort findet sich im Drei-Säulen-System. Es setzte sich Anfang der 1970er-Jahre gegen das von (ganz) Links befürwortete Konzept der Volkspension durch, das in einer Volksabstimmung wuchtig verworfen wurde. Gemäss diesem Modell wäre die AHV massiv ausgebaut und als zentrales Mittel der Existenzsicherung im Alter positioniert worden. Stattdessen wählte die Schweiz ein Modell, bei dem die einkommensabhängige berufliche Vorsorge – die zweite Säule – eine zentrale Rolle bei der finanziellen Sicherung im Alter übernimmt.

Dieses System benachteiligt Menschen, die nicht ihr ganzes Erwerbsleben in der Schweiz verbrachten, nicht erwerbstätige oder in Teilzeit arbeitende Menschen sowie jene mit tiefem Einkommen. Letztere zwei Kategorien betreffen mehrheitlich Frauen. Das System der Altersvorsorge reproduziert also in bedeutendem Ausmass vorherrschende Ungleichheiten: zwischen Frauen und Männern, zwischen Gut- und Geringverdiener:innen, zwischen hier Geborenen und Eingewanderten.  

Ergänzungsleistungen werden nicht bezogen

Doch auch das erklärt nicht, weshalb fast 50 000 Personen mit einem Einkommen unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben. Vielmehr dürfte es daran liegen, dass Ergänzungsleistungen beantragt werden müssen. In diesem Punkt unterscheiden sie sich von anderen Sozialleistungen wie der Prämienverbilligung zur Krankenkasse, bei denen Personen, die aufgrund ihres Einkommens vermutlich Anspruch darauf hätten, mit einem Informationsschreiben über diesen Anspruch informiert werden. Zwar müssen diese Personen dann noch den nicht unkomplizierten Antrag ausfüllen und einreichen, aber allein das Anstupsen ist bereits sehr wertvoll. Mit anderen Worten: Es scheint viele Menschen mit Anspruch auf Ergänzungsleistungen zu geben, die diese aber nicht beziehen. 

Scham und Stolz

Das Phänomen des Nichtbezugs ist seit den 1980er-Jahren bekannt. Dennoch stieg das Forschungsinteresse daran erst im letzten Jahrzehnt. Damit wurde der Nichtbezug erstmals als sozialpolitisches Thema ernst genommen. Für die Schweiz liegen nur wenige Zahlen vor. Eine Ausnahme bildet eine Untersuchung von Oliver Hümbelin von der Berner Fachhochschule für den Kanton Bern. Er kommt zum Schluss, dass fast ein Drittel aller pensionierten Personen im Kanton Basel-Stadt, die einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen hätten, diese nicht einfordern.  

Was sind die Gründe, die zu einem Nichtbezug führen? Der französische Politologe Philippe Warin beschreibt vier mögliche Konfigurationen:  

  • Nicht-Wissen: Der bezugsberechtigten Person fehlt es an Informationen zu den Sozialleistungen.  
  • Nicht-Beantragen: Die bezugsberechtigte Person entscheidet sich bewusst gegen einen Bezug zum Beispiel aus Scham, Stolz oder weil es ihren Wertvorstellungen widerspricht. Oder aber sie weiss nicht, wie man den Antrag korrekt ausfüllt. Personen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit fürchten möglicherweise, den Aufenthaltsstatus zu verlieren.  
  • Nicht-Erhalt: Aufgrund von administrativen Fehlern kommt es nie zu einer Zahlung.  
  • Nicht-Angebot: Die Beratungsperson versäumt es, die bezugsberechtigte Person über eine Sozialleistung zu informieren. Vor allem die ersten zwei Konfigurationen dürften eine wichtige Rolle spielen. Genaue gesamtschweizerische Zahlen über das Ausmass des Nichtbezugs von Ergänzungsleistungen gibt es derzeit allerdings keine. Einzig von Basel-Stadt weiss man, dass 29 Prozent der zum Bezug von Ergänzungsleistungen berechtigten Personen diese nicht beziehen.

Erste Schätzung zum Ausmass des Nichtbezugs

Mit dem zweiten Teilbericht unserer Armutsstudie für Pro Senectute Schweiz, der demnächst erscheinen wird, wird diese Forschungslücke geschlossen. Auf der Basis von Zahlen, die wir erhobenen haben, sowie anderen Datenquellen werden wir eine erste gesamtschweizerische Schätzung zum Ausmass des Nichtbezugs abgeben. Ebenso prüfen wir verschiedene Hypothesen: Zeigen sich Unterschiede, ob Personen allein oder mit jemandem wohnen? Gibt es einen Stadt-Land-Graben? Und trifft es wieder dieselben Risikogruppen besonders stark, also Frauen, Personen ohne obligatorische Schulbildung und Migrant:innen?

Ohnehin müssen wir uns fragen: Wie lässt sich Altersarmut bekämpfen? Manche sagen vielleicht: Lassen wir doch einfach die positiven Faktoren noch ein bisschen länger wirken. Die besonders gefährdete Gruppe der Personen ohne obligatorische Bildung wird in Zukunft immer kleiner werden, die Beschäftigungsmuster von Frauen und Männern werden sich langsam, aber stetig angleichen, und die durch das Altersvorsorgesystem erzeugten Geschlechterunterschiede bei der Altersarmut werden abnehmen. Was einer solchen Argumentation allerdings widerspricht: Wir können jetzt schon voraussagen, dass die Altersarmut trotz solcher Verbesserungen nicht verschwinden wird. Dazu braucht es mehr 

Auftrag an die Soziale Arbeit

Das erste wichtige Handlungsfeld besteht darin, das in die Jahre gekommene System der Altersvorsorge zu verbessern. Bei der letzten Abstimmung über die AHV-Revision wurde viel über den «Gender Pension Gap», also den Unterschied bei den Renteneinkommen zwischen den Männern und den Frauen, diskutiert. Dabei wurde ein wichtiger Aspekt vernachlässigt: Dieser Unterschied kommt hauptsächlich durch die zweite Säule, gekoppelt mit der starken geschlechterspezifischen Rollenteilung in der Schweiz, zustande. Hier gilt es, die längst fälligen Anpassungen umzusetzen: Die Eintrittsschwelle muss reduziert werden, damit auch Personen mit kleinen Arbeitspensen und/ oder Einkommen abgesichert werden – was eben besonders Frauen zugutekäme.

Das zweite Handlungsfeld ergibt sich durch die Erkenntnis, dass Altersarmut stark mit dem Nichtbezug von Ergänzungsleistungen zusammenhängt. Hier muss das Ziel sein, den Nichtbezug zu reduzieren oder sogar zum Verschwinden zu bringen. Dabei bieten sich mehrere Möglichkeiten. So sollten Altersorganisationen, Sozialdienste, aber auch die Gemeinden und die Kantone die Bevölkerung über diese Sozialleistung systematisch aufklären – so wie es im Bundesgesetz über die EL steht. Politisch könnte man sich auch für alternative Auszahlungsmodi einsetzen. Warum nicht aufgrund der Einkommenssituation einen Antrag für EL versenden, ähnlich wie bei der Prämienverbilligung?

Und zuletzt muss die zentrale Rolle der Sozialarbeitenden hervorgehoben werden. Deren Aufgabe ist es, Betroffene bei der Umsetzung ihres Anspruchs zu begleiten. Gerade Personen ohne obligatorische Schulbildung oder solche, die in handwerklichen Berufen gearbeitet haben, können mit administrativen Prozessen, mit Formularen und im Austausch mit den Behörden überfordert sein. Dann gilt es, betroffenen Personen zu helfen. In diesem Sinne sind die Sozialarbeitenden an vorderster Front, wenn es darum geht, Altersarmut erfolgreich zu bekämpfen.