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Soziale Innovation in Aktion

Können frühe, intensive Interventionen bei frühkindlichem Autismus in der Schweiz für alle betroffenen Kinder erreichbar gemacht werden? Vielleicht – sofern gemeinsam am Problemverständnis gearbeitet wird.

von Christian Liesen
Frühkindlicher Autismus ist die schwerste Form der Autismus-Spektrum-Störung. Betroffene Kinder haben kaum Interesse an sozialer Interaktion und Kommunikation, sie zeigen Muster von restriktiven, repetitiven und unflexiblen Interessen und Verhaltensweisen und ihre Sprachentwicklung ist stark beeinträchtigt oder fehlt ganz. Aufmerksame Eltern erkennen die ersten Anzeichen in eher schweren Fällen bei Kindern zwischen 12 und 18 Monaten. Die Kinder machen oder verlangen immer wieder bestimmte Bewegungen, Handlungen oder Äusserungen. Oft ist ihr Verhalten weder für ihre Eltern noch für ihre Geschwister vorhersehbar. Auch Schlaf- und Essstörungen, Verdauungsstörungen, Epilepsie und bei schweren Fällen Aggression und Selbstaggression sind damit verbunden: Manche Kinder schreien Tag für Tag stundenlang, ohne dass sie beruhigt werden können, andere Kinder verletzen sich selbst oder andere.

Hilfe als Herausforderung

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zählen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. «Tiefgreifend» heissen diese Störungen deshalb, weil nicht einzelne Lern- und Entwicklungsbereiche des Kindes beeinträchtigt sind, sondern seine gesamte Entwicklung. ASS führen zu einer Funktionsbeeinträchtigung in praktisch allen Lebensbereichen und ganz besonders zu Erschwernissen für die soziale Integration. Mit der landläufigen öffentlichen Wahrnehmung von Autismus, dem ein Hauch von Fabelhaftem und Wunderbarem anhaftet, hat das also nichts zu tun. Betroffenen kleinen Kindern zu helfen, ist und bleibt eine Herausforderung. Erfahrene Fachleute können eine schwere ASS heute ab dem 18. Monat sicher diagnostizieren: In der Schweiz betrifft dies jährlich zwischen 130 und 250 Kinder.

Diagnose – und dann?

Alle Kantone haben mit sehr viel Fachkompetenz und Engagement Versorgungsstrukturen im Frühbereich aufgebaut. Diesen noch kleinen und schwer betroffenen Kindern und ihren Familien in einer zweckmässigen Qualität zu helfen, ist aber nicht einfach. Der Leidensdruck ist gross, die Lösungsmöglichkeiten schmal.
Zur Behandlung von frühkindlichem Autismus wurden in den USA und in anderen Ländern Intensive Frühinterventionen (IFI) entwickelt. Es handelt sich dabei um Interventionen, die sehr umfassend sind und auf Interdisziplinarität setzen: Verhaltenstherapeutische und entwicklungsbezogene Komponenten sind nach medizinischen und nach pädagogischen Grundsätzen miteinander kombiniert. Der Behandlungsansatz ist mit 20 bis 40 Förderstunden pro Woche intensiver als die bei ASS üblicherweise in separaten Fördersequenzen durchgeführten psycho-, ergotherapeutischen oder heilpädagogischen und früherzieherischen Massnahmen. Die Forschungslage ist eindeutig: Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die hohe Intensität und die Integration der Massnahmen in einem einzelnen Programm für den Interventionserfolg entscheidend sind. In ähnlicher Intensität unkoordinierte Leistungen zu erbringen, ist nicht zu empfehlen.
Im Moment werden bei frühkindlichem Autismus also mit keinem anderen Ansatz bessere Ergebnisse erzielt. Sie heben sich wesentlich von alternativen Behandlungsansätzen ab. Die Crux: Die Finanzierung ist aufgrund der aktuellen gesetzlichen Grundlagen sehr kompliziert, denn es handelt sich bei IFI um eine Kombination von (sonder-)pädagogischen und medizinischen Elementen. Diese unterschiedlichen angewendeten Methoden erschweren die Suche nach einer einheitlichen Finanzierungslösung. So wird denn auch ein beträchtlicher Teil der Kosten der IFI durch Spenden gedeckt und die Eltern leisten häufig einen wesentlichen Beitrag.

Zentren für Frühförderung

In der Schweiz gibt es seit einigen Jahren Zentren, die intensive Frühinterventionsprogramme anbieten: aktuell in Aesch BL, Genf, Lausanne, Muttenz, Sorengo und Zürich. Jedes der sechs Zentren hat eigenständig und mit viel individuellem Engagement Pionierarbeit geleistet und im Laufe der Zeit einen eigenen Ansatz und Programmstil gefunden, der gut in den jeweiligen Kontext passt. Aufgrund der fehlenden Finanzierung ist ihre Zukunft aber ungewiss.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) startete 2014 ein fünfjähriges Pilotprojekt mit den Zentren und förderte darin die intensive Frühintervention mit 45’000 Franken pro Kind. Der Pilotversuch macht klar, dass die Invalidenversicherung (IV) ernsthaft am Behandlungsansatz interessiert ist. Kostendeckend ist die Pilotpauschale der IV freilich nicht – bei mindestens 20 Therapiestunden pro Woche über mindestens zwei Jahre liegt der tatsächliche Aufwand bei 200’000 Franken und mehr pro Kind. Keines der Frühinterventionsprogramme in den Zentren wäre bislang ohne voluminöse Spendengelder oder kantonale Beiträge denkbar. Wie kann es also weitergehen?

Projekt IFI: ein Pioniervorhaben

Das BSV hat den Pilotversuch bis 2022 verlängert. Massgeblich dafür waren die Evaluationsergebnisse und Empfehlungen, die das Institut für Sozialmanagement, Departement Soziale Arbeit der ZHAW, zusammen mit dem Institut für Ergotherapie, Departement Gesundheit der ZHAW, vorgelegt hatte. Es folgte die Empfehlung des Bundesrates, dass Kinder mit frühkindlichem Autismus ab zwei Jahren Zugang zu einer intensiven Frühintervention erhalten sollen. Der damalige Bundespräsident Alain Berset ermunterte IV und Kantone, sich an einen Tisch zu setzen. Das taten sie – und einigten sich Anfang 2019 auf einen Vorgehensprozess: Das Projekt IFI war geboren. Darin wird eine gemeinsame Finanzierung durch IV und Kantone zur langfristigen Sicherstellung dieser Interventionsform geprüft.

Arbeit am Problemverständnis als Schlüssel

Die Hürden sind beträchtlich. Neue Interventionen wie IFI in die Fläche und Breite zu bringen, ist beinahe unvorstellbar vertrackt. Zum einen geben die alten Formeln, politisch risikofrei, Ergebnisse für die nächsten Jahre – es dauert, bis Vorhaben wie IFI auf dem richtigen Weg in die richtigen Köpfe gesickert sind. Findet die Auseinandersetzung statt, müssen erst einmal viele grundlegende Punkte erkannt und geklärt werden wie: Kommen medizinische und pädagogische Logiken auf einen gemeinsamen Nenner? Führen IFI nicht zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung einer kleinen Gruppe von Kindern? Wo stecken die belastbaren Gemeinsamkeiten, wenn die Interventionsprogramme doch regional so unterschiedlich gewachsen sind?
Zum anderen steht das Projekt IFI geradezu paradigmatisch für die Einsicht, dass soziale Innovationen reguliert werden müssen. Sollen die Ergebnisse umgesetzt werden, bedingt dies einen Change-Prozess in 26 Kantonen und beim Bund. Das geht oft gegen etablierte Policies. Auch sind die Akteure aufeinander angewiesen, wenn die Innovation entstehen soll, und sie können sich gegenseitig blockieren, wenn sie sie verhindern wollen. Die Konsequenz ist klar: Wer im Sozialen etwas bewegen will, muss Wege finden, wie verschiedene Akteure am Problemverständnis arbeiten können. Das ist auch hier der Schlüssel: Das Projekt IFI ist entsprechend angelegt.

Blick in die Zukunft

IV und Kantone wollen eine nachhaltige Lösung. Sie werden zum Jahresende, wenn das Projekt IFI seine erste Phase beendet, Zwischenbilanz ziehen und über das weitere Vorgehen entscheiden. Gelingt die Auseinandersetzung, kann daraus ein instruktives Beispiel für den gesamten Bereich der Früherziehung werden. Gelingt sie nicht, müssen die Hürden gut verstanden und beschrieben sein, so dass spätere Lösungen grössere Erfolgschancen haben.

Informationen zum Projekt IFI

Das Projekt widmet sich der zentralen Frage: Sollen die Intensiven Frühinterventionen (IFI) vom derzeitigen verlängerten Pilotversuch in den Regelbetrieb überführt werden und wenn ja, wie? Dies prüfen IV und Kantone. Christian Liesen vom Institut für Sozialmanagement der ZHAW hat dabei die Leitung der ersten Projektphase übernommen.

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