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Soziale Arbeit und Sexarbeit oder: Was es braucht für ein gerechtes Bordell

Soll und darf Sexarbeit erlaubt sein? Niederschwellige Sozialarbeit könnte eine sachliche Antwort auf eine moralische Frage versuchen, ohne Moral zu ignorieren.

Von Laura Miotti und Michael Herzig

Sexarbeit ist ein riskanter Beruf. Auf dem Spiel stehen Gesundheit und persönliche Unversehrtheit. Sexarbeit ist nicht immer erste Wahl, sondern erscheint meistens als eine von mehreren schlechten Optionen. Häufig entsteht der Entscheid dazu aus Armut. Manchmal wird sie erzwungen, durch Schulden, Abhängigkeit, Gewalt.

Trotzdem gibt es Sexarbeitende, die sich ohne Not und Zwang und unter Abwägen aller Chancen und Risiken für diese Form der Erwerbstätigkeit entscheiden. Es gibt Leute, die Sexarbeit als «eine gute Lösung» für sich bezeichnen und sie auch nicht als Verletzung ihrer Menschenwürde erachten. Selbstbestimmte Sexarbeit bedeutet, selbst zu entscheiden, mit wem, wo, für wie viel und welche Form von Service angeboten wird.

Wie Diskriminierung entsteht

Es gibt in der Schweiz auch andere Branchen, die anfällig sind für Ausbeutung, Zwang und Gewalt. Haushalts-, Reinigungs- und Pflegehilfen erleben Ähnliches wie Sexarbeitende. Auch im Baugewerbe oder im Erntesektor sind Opfer von Menschenhandel tätig. Sucht man Gemeinsamkeiten zwischen solchen Formen der Ausbeutung, spielen patriarchalische Strukturen eine Rolle, aber nicht die einzige. Ein anderer Faktor ist das internationale Wohlstandsgefälle. Die Kaufkraft des Schweizer Frankens ist vielerorts um ein Vielfaches höher als in der Schweiz. Wenn in einer Nacht mehrere Monatseinkommen verdient werden können, werden Risiken in Kauf genommen, die sonst nicht eingegangen würden.

Einen weiteren Unterschied macht das Ausländer- und Integrationsgesetz. Wer aufgrund des aufenthaltsrechtlichen Status keinen Zugang hat zu Gesundheitsversorgung, Sozialhilfe, Sozialversicherungen und juristischem Beistand, ist Ausbeutung, Zwang und Gewalt stärker ausgeliefert als Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Diskriminierung entsteht primär aufgrund des Geschlechts, des Einkommens, des Vermögens, der Nationalität und des aufenthaltsrechtlichen Status. Sie betrifft grösstenteils Frauen, aber nicht ausschliesslich.

AG, Genossenschaft – oder NGO?

Wollen Sozialarbeitende solche ausbeuterischen Strukturen ändern oder wenigstens entschärfen, müssen sie diese Zusammenhänge in die politische Diskussion einbringen. Das bleibt nicht unwidersprochen, die Auseinandersetzung kann heftig werden. Wer im Fachdiskurs verharrt, bleibt wirkungslos. Damit Sexarbeitende selbstbestimmt arbeiten können, würden sie in einem gerechteren Bordell selbst entscheiden, welche Leistungen sie für wen anbieten. Niemand wäre gezwungen, gegen den eigenen Willen Kunden zu bedienen. Es gäbe Schutzvorrichtungen und ein internes Alarmsystem zur Verhinderung von Übergriffen. In einem gerechteren Bordell stünde der erzielte Gewinn denjenigen zu, die ihn erarbeiten. Dritte wären nicht am Profit beteiligt.

Ein solches Bordell wäre kaum als Aktiengesellschaft organisiert, am ehesten als Genossenschaft. Es gibt auch Stimmen, die staatliche Bordelle propagieren, wodurch der Markt durch Bürokratie ersetzt würde. Andere bevorzugen eine NGO, die genug Unabhängigkeit vom Markt wie auch vom Staat hätte und eine gewisse Fachlichkeit gewährleisten könnte. Letztlich kommen Selbstorganisation und Selbstverwaltung dem Gerechtigkeitsideal am nächsten. In diesem Bordell könnten Sexarbeitende ohne Niederlassung in der Schweiz wohnen, damit sie nicht dem Mietwucher ausgesetzt sind, wie er im Sexgewerbe üblich ist.

Kein Platz für Dogmatik

Idealerweise würde dieses Etablissement über eine Kinderbetreuung verfügen. Die wenigsten Kitas decken die Arbeitszeiten von Menschen ab, die nachts arbeiten. Zudem müssen Sexarbeiterinnen und -arbeiter, die ihre Kinder in eine Kita bringen, den Beruf verheimlichen.

Eine zentrale Frage wäre, wer in diesem Bordell arbeiten dürfte und wie darüber entschieden würde. Das marktwirtschaftliche Sexgewerbe ist brutal: Wer schlecht ist fürs Geschäft, kommt nicht rein oder fliegt raus. Ein gerechteres Bordell müsste Diskriminierungsmechanismen aushebeln und für alle offen sein, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Alter und sexueller Orientierung. Dieser hohe Anspruch lässt sich fast nur in kooperativen und solidarischen Organisationsformen umsetzen. Ein gerechteres Bordell stünde auch nicht dort, wohin Gemeindebehörden Sexarbeit verbannen. Ein gerechteres Bordell wäre örtlich, ökonomisch, sozial und kulturell dort, wo die Kunden sind: In der Mitte der Gesellschaft.

Rolle der Sozialen Arbeit

Bleibt die Frage nach der Rolle der Sozialarbeitenden. In einem gerechteren Bordell würden viele Aufgaben entfallen, die sie derzeit wahrnehmen, weil die Sexarbeitenden für sich selbst sorgen würden. Doch könnten Sozialarbeitende die Kernkompetenzen ihres Berufes in eine Betriebskommission einbringen: das systemische Denken, das Sensorium für Ausbeutung, das Interesse an Lebenslage und Lebenswelt marginalisierter Menschen, der Respekt für individuelle Selbstbestimmung, die Hilfe zur Selbsthilfe, die Selbstreflexion und die Vermittlung in Konflikten.

Hingegen hätten paternalistische und dogmatische Haltungen keinen Platz. Und weil die Welt ausserhalb des gerechteren Bordells immer noch dieselbe wäre, bräuchte es im Einzelfall sozialarbeiterische Unterstützung für diejenigen Sexarbeitenden, die persönlich oder strukturell benachteiligt sind. Ein gerechteres Bordell wäre eine soziale Einrichtung, aber keine genuin sozialarbeiterische.

Bachelorarbeit

Laura Miotto war bei Flora Dora, der Stadtzürcher Beratungsstelle für Sexarbeitende, tätig und arbeitet heute bei FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration in Zürich. Sie studierte Soziale Arbeit an der ZHAW; dieser Text basiert auf ihrer Bachelorarbeit. Michael Herzig unterrichtet als Dozent am Institut für Sozialmanagement.