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Soziale Arbeit im Ausland: Malaysia

Malaysia hebt sich in vielerlei Hinsicht von anderen muslimischen Ländern ab. In Sachen Gleichstellung gibt es aber noch Luft nach oben. Eine von Frauen gegründete NGO macht sich dafür stark.

Malaiische Frauen stehen vor einem Bild in einem Museum.

Von Vera Bäriswyl

Wer das südostasiatische Malaysia noch nicht bereist hat, sollte dies eines Tages unbedingt tun. Malaysia bietet alles, was man zum Wohlfühlen braucht: eine vielfältige Natur, gastfreundliche und interessierte Menschen, eine bunte Küche und ewigen Sommer. Die einladende Atmosphäre lässt einen sich schnell heimisch fühlen. Dass die Menschen sehr zufrieden sind und die Kriminalitätsrate im Allgemeinen sehr tief ist, verdankt das Land unter anderem einer Besonderheit, von der so manches Land noch weit entfernt ist: dem friedvollen Zusammenleben verschiedener Religionen und Ethnien. Obwohl der Islam die Staatsreligion ist, gehören nur etwa 60% der Bevölkerung dieser Glaubensrichtung an. Gefolgt wird sie von Buddhismus mit rund 20%, Christentum mit rund 10%, Hinduismus mit rund 6% und weiteren Religionen. Die Religionsfreiheit ermöglicht allen Glaubensgemeinschaften, ihre Feste und Bräuche in und mit der Öffentlichkeit zu teilen. So stehen Moschee, Tempel und Kirche oftmals direkt nebeneinander, ohne dass sich jemand daran stört. Der Staat übt allerdings eine gewisse Diskriminierung gegenüber nichtmuslimischen Menschen aus. So werden muslimische Schulen, Organisationen und Moscheen staatlich unterstützt. Rechtlich gesehen müssen alle Malaien muslimisch sein, was sogar im Pass ausgewiesen ist. Sie verlieren beim Konvertieren den Status als ursprüngliche Malaien mit sämtlichen Privilegien. Trotz oder gerade wegen dieser Tatsache unterstützt die Regierung des Staats Penang die Kulturverständigung tatkräftig. So ist bei den zahlreichen kulturellen Veranstaltungen über das ganze Jahr eine ethnische Durchmischung der Besuchenden erwünscht und wird teilweise auch von den Religionsgemeinschaften weitergetragen. Ein schönes Beispiel dafür ist der Auftritt einer indisch-malaysischen Tanzgruppe am chinesischen Neujahrsfest.

Staat und NGOs unterstützen Hand in Hand

Die professionelle Soziale Arbeit in Malaysia hat ihre Anfänge in den 1930er Jahren, hervorgerufen  durch die britische Kolonialverwaltung, die ihren Fokus auf die Wanderarbeiter aus Indien und China legte. 1946 wurde das erste Departement für Sozialhilfe gegründet, da Themen wie Jugenddelinquenz und Armut in den Vordergrund traten. Neben finanzieller Unterstützung für Bedürftige gehörte die Heimpflege für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung zum Arbeitsfeld der Sozialarbeitenden. Weiter waren sie in Bewährungsprogrammen für straffällige Jugendliche oder in Schutzhäusern für Frauen und Mädchen tätig.

Heute leisten neben den staatlichen Organisationen unzählige NGOs essentielle Arbeit und ergänzen durch ihre spezifischen Themenfelder wie Kindsschutz oder Frauenrechte das staatliche Welfare Department. Die Angebote der NGOs richten sich einerseits gezielt an bestimmte ethnische Gruppen, was bei Kinderheimen sehr deutlich wird. So existieren buddhistische Heime für Kinder von chinesischen Malaien oder hinduistische Heime für indisch-malaysische Kinder. Im Gegensatz dazu spiegelt sich die Toleranz für Diversität der malaysischen Bevölkerung in anderen Bereichen wider, wie in der Altenpflege, wo die Klientel sowie die Angestellten von verschiedenster Herkunft sind. Interessant ist die Tatsache, dass es keine Anlaufstellen, Therapien oder Prävention im Suchtbereich gibt.  Wie in muslimischen Ländern üblich ist der Konsum von Suchtmitteln verpönt oder sogar verboten. Auf Besitz und Handel mit illegalen Substanzen drohen Stockhiebe, hohe Bussen oder gar die Todesstrafe. Suchterkrankte werden zu Hause von der Familie betreut und sind in der Öffentlichkeit nicht sichtbar. Ein weiterer grosser Unterschied zur Sozialen Arbeit, wie wir sie kennen, ist der Umgang mit Langzeitarbeitslosigkeit. Das staatliche Welfare Department unterstützt nur bedürftige Personen wie Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen. Wer jung und arbeitsfähig ist, kann keine Gelder beantragen.

Grundsätzlich bietet das Welfare Department Unterstützung mit wenig Betreuungscharakter und die NGOs sind für Dienstleistungen über die Finanzierung hinaus zuständig. Dies liegt unter anderem daran, dass die Angestellten in den NGOs besser geschult werden und diejenigen des Welfare Department befördert werden, sobald sie auf einer professionellen Stufe angekommen sind. Die Zusammenarbeit ist unabdingbar, da die NGOs über das professionelle Wissen verfügen, das Welfare Department aber die gesetzlichen Kompetenzen hat, beispielsweise im Kindsschutz.

WCC – eine NGO mit feministischem Ansatz

Die Offenheit und Toleranz in Malaysia zeigt sich auch in Sachen Frauenrechte. Die islamischen Malaiinnen unterscheiden sich kaum von Frauen anderer Religionen. Ihnen sind keine einschränkenden Gesetze auferlegt und sie haben Zugang zu Bildung, freie Berufswahl und müssen sich nicht verschleiern. Dennoch ist häusliche Gewalt leider ein verbreitetes Problem.

Die Frauen im Staat Penang und aus der nördlichen Region hatten lange keine Anlaufstelle: 1985 dann gründeten fünf Frauen das Women’s Centre for Change (WCC), unter ihnen Rechtsanwältinnen, Lehrerinnen und Heimleiterinnen. Heute besteht das WCC-Team aus insgesamt 15 Festangestellten aus Sozialer Arbeit, Psychologie und Rechtswissenschaft sowie 40 bis 60 Freiwilligen aus weiteren Berufsfeldern. Mission ist die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und Kinder, das Empowerment von Frauen und Kindern, die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter sowie die soziale Gerechtigkeit. Das WCC umfasst zwei Abteilungen. Die grössere setzt sich aus Sozialarbeitenden zusammen, die mehrheitlich für die Beratung der Opfer häuslicher Gewalt und sexueller Belästigung zuständig sind. Die kleinere juristische Abteilung hat die anwaltschaftliche Betreuung und Beratung der Klientel zum Auftrag, klärt sie über ihre Rechte auf und begleitet sie emotional und organisatorisch bei allfälligen Gerichtsverfahren. Beide Abteilungen veranstalten regelmässig Schulungen und Workshops, halten Vorträge und beteiligen sich an aufsuchender Aufklärungsarbeit. Essentiell ist hierbei die interdisziplinäre Kooperation wie etwa mit Krankenhäusern, Polizei, Schulen, Universitäten und Jurisprudenz.

Eine Problematik, mit der sich das WCC immer wieder konfrontiert sieht, ist die Verhaltensweise der Polizei. Wendet sich eine Frau aufgrund von häuslicher Gewalt an die Polizei, wird sie häufig nicht ernst genommen und sogar abgewiesen. Die meisten Betroffenen unternehmen deshalb keine weiteren Schritte und kehren zum Täter zurück. Die Folgen können verheerend sein, da ein Polizeirapport für ein gerichtliches Verfahren Voraussetzung ist, eine Anzeige jedoch durch das Fehlverhalten der Polizei verhindert wird. Die Sensibilisierungsarbeit mit der Polizei beschäftigt sich in erster Linie mit der Aufklärung darüber, was häusliche Gewalt ist, und mit deren Auswirkungen auf die Betroffenen. Es wird sorgfältig aufgezeigt, wie der richtige Ablauf bei einer Meldung wäre und wie wichtig die Polizei als erste Anlaufstelle ist.
Die Haltung der Polizei zeigt, dass in der Gesellschaft oftmals Unwissen darüber besteht, was häusliche Gewalt ist und dass sie überhaupt existiert. Das WCC versucht, so viele Menschen wie möglich auf die Problematik von Diskriminierung, häuslicher Gewalt und sexueller Belästigung aufmerksam zu machen. Dafür werden diverse Plattformen genutzt, wie das George Town Festival: ein alljährlicher öffentlicher Event, der einen Monat dauert und Hunderte von Programmpunkten im Bereich Kunst beinhaltet. Das WCC organisierte 2015 in diesem Rahmen die Ausstellung «My story, my strength: doodle for change». Malaysische Künstlerinnen setzten die Geschichten von Frauen, die häusliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt hatten, in ihren Bildern und Kunstwerken um. Die Ausstellung, von einer prominenten Künstlerin und Politikerin moderiert, wurde zum Erfolg und von diversen Zeitungen gelobt.

Das enorme Engagement der Sozialarbeitenden sowie der Zusammenhalt verschiedener NGOs über die einzelnen Staaten in Malaysia hinaus sind entscheidend für die Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit im Land und für das Bewusstsein, dass es NGOs wie das WCC braucht. Es bleibt zu hoffen, dass die Vision des WCC irgendwann Realität wird: Eine Gesellschaft, die frei ist von geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung und in der Frauen ihr volles Potenzial verwirklichen können.

Autorin

Vera Bäriswyl hat nach ihrem Masterstudium in Sozialer Arbeit an der ZHAW während eineinhalb Jahren in Malaysia gelebt und gearbeitet, unter anderem im Rahmen eines Praktikums beim WCC. Heute ist sie in der Sozialberatung der Stadt Dietikon tätig.