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Rechtspsychologe über Strafgesetz: «Die Moral ist noch da»

Der Bedarf an Fachpersonen für therapeutische Massnahmen und Risikoabklärungen im Strafvollzug wächst. Das widerspiegelt die steigenden Ansprüche der Gesellschaft an die Justiz, sagt ZHAW-Dozent Klaus Mayer.

ZHAW-Dozent Klaus Mayer: «Es wird immer zu Rechtsverstössen kommen.» (Bild: Erik Mclean / Unsplash)

Interview: Regula Freuler

Nach welchen Grundsätzen behandeln wir heute Straftäter und -täterinnen?
Klaus Mayer: In der Schweiz steht der Resozialisierungsgedanke im Vordergrund. Hier hat sich in den letzten 20 Jahren eine Entwicklung vollzogen, die zu einer markanten Veränderung der Praxis des Justizvollzugs geführt hat. Unter den Stichworten Delikt­ und Risikoorientierung bilden heute strukturierte Risikoeinschätzungen, zielführende Interventionspläne und viele rückfallpräventive und sozialintegrative Behandlungs­, Betreuungs­ und Unterstützungsangebote den Kern der Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen.

Das Strafgesetzbuch sieht für «psychisch schwer gestörte» Tatpersonen therapeutische Massnahmen vor. Welches sind die grössten Herausforderungen für Fachleute im Massnahmenvollzug?
Zunächst müssen wir zwischen ambulanten und stationären Vollzugsformen unterscheiden. Im ambulanten Rahmen bleiben soziale Bezüge erhalten. Jedoch ist der Einfluss der Therapie auf die behandelte Person relativ gering im Vergleich zum Einfluss durch das soziale Umfeld und die Lebensbedingungen. Wenn diese Faktoren den Therapiezielen entgegenwirken, dann wird es sehr schwer.

«Ich finde es sehr belastend, welchen zum Teil recht realitätsfremden Anforderungen der Justizvollzug ausgesetzt ist.»

Klaus Mayer, Dozent ZHAW Soziale Arbeit, Diplom-Psychologe und Psychotherapeut

Und bei den stationären Massnahmen?
Da sind die Einflussmöglichkeiten viel stärker – ein grosser Vorteil. Jedoch ist die damit verbundene soziale Desintegration problematisch. Hinzu kommt: Wann sind die Therapieziele erreicht beziehungsweise das Rückfallrisiko so weit gesenkt, dass Lockerungen in ein offenes Setting möglich sind? Und wie kann der behandelte Insasse seine Fortschritte beweisen, wenn er sich nahezu ständig in einem kontrollierenden Umfeld bewegt? Der Konflikt zwischen Sicherung und Wiedereingliederung wird hier besonders deutlich.

Sie haben vor knapp 10 Jahren das Konzept des Risikoorientierten Sanktionenvollzugs mitentwickelt. Worum geht es?
Das Ziel war ganz klar, die rückfallpräventive Wirksamkeit des Justizvollzugs zu verbessern. Wir haben uns dafür die vorhandene wissenschaftliche Evidenz angeschaut und mit dem Risikoorientierten Sanktionenvollzug, kurz ROS genannt, eine Art Best­Practice­Modell entwickelt. Im Kern geht es darum, die Ressourcen des Justizvollzugs auf jene Fälle zu konzentrieren, bei denen am ehesten ein Rückfall in erneutes deliktisches Verhalten befürchtet werden muss.

Wie lief die Umsetzung von ROS?
Die damit verbundenen Umstellungen haben dem Justizvollzug und seinen Mitarbeitenden einiges abverlangt. Was heute als selbstverständlich gilt, war damals vielen fremd und zum Teil suspekt. Für mich war es eine aufreibende Zeit, aber ich habe auch sehr viel darüber gelernt, wie Organisationen und ihre Mitarbeitenden sich verändern lassen.

Welche Erfahrungen haben die Kantone, die ROS umsetzen, bisher damit gemacht?
ROS hat sich in den beiden deutschsprachigen Justizvollzugskonkordaten als Standard etabliert. Auch die Entwicklungen des lateinischen Konkordats sind teilweise davon beeinflusst. ROS hat zu mehr Klarheit bei Vollzugsentscheidungen und zu mehr Handlungssicherheit bei den Akteuren geführt. Wichtig ist, dass man den Mitarbeitenden immer den Spielraum lässt, in Absprache mit Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzten sachgerechte Einzelfallentscheidungen zu treffen. Alles lässt sich nicht standardisieren.

Der Strafjustiz wird vorgeworfen, vor der Psychiatrie zu kapitulieren. Werden zu viele Massnahmen verhängt?
Natürlich ist die Legalbewährung das zentrale Ziel, an dem nach aktuellen wissenschaftlich fundierten Standards gearbeitet wird. Aber es wird immer zu Rechtsverstössen kommen, und man kann niemals vollkommen ausschliessen, dass aus dem Vollzug Entlassene wieder delinquieren werden. Daher finde ich es sehr belastend, welchen zum Teil recht realitätsfremden Anforderungen der Justizvollzug ausgesetzt ist.

Ist die Null-Risiko-Gesellschaft schuld?
Ich erkenne eine klare Verbindung zwischen diesem gesellschaftlichen Druck und Tendenzen, Risiken tendenziell überzubewerten. Auf der anderen Seite hat das Wissen über Prinzipien und Praxis guter psychiatrisch­forensischer Prognostik auch dank immenser Fortbildungsanstrengungen stark zugenommen. Die Qualität ist in diesem Bereich eindeutig sehr viel besser geworden. Dennoch sind auch hier weitere Verbesserungen möglich und sinnvoll, zum Beispiel bei der Förderung psychologisch­forensischer Gutachtertätigkeit.

Die Kriminalitätsrate sinkt tendenziell. Dennoch haben sich in den vergangenen 20 Jahren therapeutische Massnahmen im Strafvollzug vervielfacht. Weshalb?
Ich vermute hier die gleiche Dynamik, die wir aus anderen Bereichen der Medizin kennen: Eine erhöhte Sensibilität für das Thema führt zu mehr Abklärungen, die wiederum entsprechende Ergebnisse liefern. Auf die Justiz bezogen heisst das: Wenn die Frage einer möglichen deliktrelevanten psychischen Störung im Raum steht, wird eher ein Gutachten angeordnet. Das wiederum führt zu mehr entsprechenden Diagnosen, die dann eine therapeutische Massnahme nach sich ziehen. Ich finde es positiv, wenn Menschen mit entsprechenden Störungen eine Behandlung erhalten. Aber auch hier müssen wir sehen: Die Ansprüche an die Justiz sind gestiegen.

Gibt es überhaupt genügend Klinikplätze für stationäre Behandlungen?
Es gab Zeiten mit einem extremen Überhang an Verurteilungen nach dem Artikel 59, auch «kleine Verwahrung» genannt, und zu wenig Plätzen im Massnahmenvollzug. Dann wiederum konnte dieser Überhang reduziert werden. Sorgen machen sollten wir uns um bestimmte Personengruppen, für die das System derzeit wenig zu bieten hat, zum Beispiel straffällig gewordene Menschen mit einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis mit einem chronifizierten Verlauf. Hier fehlen eindeutig spezialisierte Institutionen mit entsprechenden Vollzugsangeboten.

Früher zielte man im Vollzug auf «moralische Besserung». Jüngere Strafrechtsreformen zielen auf eine moralfreie Rechtsdefinition ab. Aber gibt es Recht ohne Moral?
Die Moral ist immer noch da, einfach im Begriff der Resozialisierung. Aber was bedeutet das? Im Kern geht es doch auch wieder um eine Anerkennung gesellschaftlicher Normen und die Bereitschaft, sich ihnen unterzuordnen. Das Spannende bleibt dabei halt die Frage, welche Abweichungen wir zulassen und wo wir die Grenzen durch Verbote ziehen. So etwas wird in einer Gesellschaft laufend neu verhandelt.

CAS Kriminologie, Forensik und Recht

Diese Weiterbildung eignet sich für alle, die sich beruflich mit der Resozialisierung dissozialer oder straffällig gewordener Jugendlicher, junger Erwachsener und Erwachsener befassen. Dazu gehören Fachleute der Sozialen Arbeit, Psychologie, Pädagogik und Rechtswissenschaft wie Mitarbeitende des Straf- und Massnahmenvollzugs, der Bewährungshilfe oder aus Betreuungseinrichtungen.
Der siebenmonatige CAS Kriminologie, Forensik und Recht bietet eine fachliche Grundlage mit ausgeprägtem Praxisbezug. Die Dozierenden stammen aus zentralen Institutionen des Schweizer Justizvollzugs.