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Radikalismus-Expertin: «Es braucht mehr muslimische Betreuungspersonen für die Seelsorge»

Kann man islamistischem Terror vorbeugen, indem man Imame zu einer Ausbildung in der Schweiz verpflichtet? Der Bundesrat beauftragte die ZHAW Soziale Arbeit mit einer Studie, um dies zu prüfen. Der Einfluss von Imamen werde überschätzt, sagt Studienleiterin Miryam Eser Davolio.

Muslimverbände fühlen sich zunehmend mitverantwortlich bezüglich Radikalisierungsfragen. Hier Imam Mustafa Memeti in der Moschee im Haus der Religionen in Bern. (Bild: Peter Klaunzer / Keystone)

Interview: Regula Freuler  

Frau Eser Davolio, der Bundesrat hat sich unlängst gegen eine Ausbildungspflicht für Imame nach Schweizer Universitätsstandards ausgesprochen. Weshalb? 

Miryam Eser Davolio: Zum einen ist der Staat gemäss Bundesverfassung zu religiöser Neutralität verpflichtet. Das heisst, er darf keine Massnahmen ergreifen oder Vorschriften machen, die eine spezifische Religionsgemeinschaft betreffen. Zum anderen – das hat unsere Studie gezeigt – wird der Einfluss von muslimischen Betreuungspersonen auf Radikalisierungsprozesse überschätzt.  

Und was ist mit den sogenannten Hasspredigern?  

Diese gibt es, und ihre Aktivitäten führen immer wieder zu politischen Forderungen wie etwa jenem Postulat im Jahr 2016, in dessen Folge wir mit der Studie beauftragt worden sind. Das Postulat kam von einer Winterthurer Politikerin. In dieser Stadt befand sich bis 2017 die An-Nur-Moschee, die bis zu ihrer Schliessung als Treffpunkt radikaler Islamisten galt. Auch bei anderen Moscheen, etwa in Lausanne und Genf, gab es schon Auftritte radikaler Imame. Aber sie sind nicht repräsentativ für die Situation im ganzen Land. Ausserdem handelte es sich meistens um Wanderprediger, die sich nur für eine kurze Zeit in der Schweiz aufhielten und die nicht unter eine solche Ausbildungspflicht fallen würden.  

«Radikalisierte Personen lehnen die meisten Imame als zu verwestlicht ab und stellen deren Autorität in Frage.» 

Miryam Eser Davolio, Studienleiterin und ZHAW-Dozentin 

Weshalb haben gemässigte Imame kaum Einfluss auf Radikalisierungsprozesse? 

Muslimische Betreuungspersonen, zu denen Imame, Koranlehrer, islamische Religionslehrpersonen sowie Seelsorgerinnen und Seelsorger gehören, kommen mit dem Phänomen Radikalisierung selten direkt in Berührung. Ebenso wenig stellen Moscheen hierzulande Horte der Radikalisierung dar. Natürlich besuchen bisweilen auch radikalisierte Personen die Freitagspredigten in einer Moschee. Doch sie lehnen die meisten Imame als zu verwestlicht ab und stellen deren Autorität in Frage. Kontakte, die zu einer Radikalisierung führen können, entstehen meistens durch Gleichaltrige, und dies an ganz unterschiedlichen Orten, beispielsweise im Kampfsportzentrum, im Café und vor allem im Internet.  

Und dennoch gibt es das Problem der Hassprediger, die radikales Gedankengut verbreiten.  

Wichtig ist zu wissen, dass sie nicht nur von der nicht-muslimischen, sondern genauso von der muslimischen Gesellschaft als Problem erachtet werden, weil sie deren Image schädigen und insbesondere junge Menschen in ihren Bann ziehen. Von den rund 400 000 Musliminnen und Muslimen in der Schweiz kann nur eine Minderheit über Moscheen erreicht werden. Nur 12 bis 15 Prozent bezeichnen sich als gläubig.  

Wird denn von den Muslimverbänden genug getan gegen Radikalisierung? 

Auf jeden Fall sind sie sehr interessiert daran, Radikalisierungsaktivitäten zu verhindern. Seit 2015, als wir im Rahmen einer anderen Studie erste Befragungen durchgeführt hatten, stellen wir eine zunehmende Sensibilität und ein gesteigertes Verantwortungsbewusstsein bezüglich Radikalisierungsfragen fest. 

Welche Regulierungsmöglichkeiten gibt es? 

Bei ausländischen Staatsangehörigen, die in der Schweiz als religiöse Lehrpersonen tätig sind, gelten die Regeln aus der Integrationsvereinbarung. Sie ist Teil des Ausländerrechts. Diese Regeln gelten für alle Religionen, und ihre Einhaltung wird von den Kantonen überprüft. Doch wie erwähnt: Die ausländischen Wanderprediger unterliegen nicht dieser Vereinbarung.   

Was halten Sie von einer Forderung der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats, dass Imame stärker kontrolliert werden können: durch ein Bewilligungsverfahren, durch ein öffentliches Imamregister oder durch ein Verbot der Auslandfinanzierung von Moscheen, wie es in Österreich existiert? 

Mit der Integrationsvereinbarung besteht bereits ein Kontrollinstrument mit Auflagen, welche Imame, die eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz beantragen, erfüllen müssen. Von daher habe ich meine Zweifel bezüglich des Mehrwerts eines Imamregisters.  

Und ein Verbot der Auslandfinanzierung? 

Werden Moscheen aus dem Ausland finanziert, kann dies durchaus mit einem Einfluss aus den Geberländern verbunden sein. Es wäre folglich begrüssenswert, wenn man das einschränken könnte. Doch die finanziellen Ressourcen der meisten Moscheevereine in der Schweiz sind sehr beschränkt, weshalb sie auf auswärtige Zuwendungen angewiesen sind. In Österreich hingegen ist der Islam schon lange öffentlich-rechtlich anerkannt und nimmt «Kirchensteuern» ein, was eine wichtige Voraussetzung darstellt, um ein solches Verbot durchzusetzen.  

Ein Ziel Ihrer Studie war es, die Rolle muslimischer Betreuungspersonen zu untersuchen. Zu welchem Ergebnis sind Sie und Ihr Forschungsteam gekommen? 

Nehmen wir zunächst die Imame. Ihre Funktion geht weit über jene eines Vorbeters hinaus. Viele fungieren auch als Religionslehrer, Seelsorger und als Vermittlungspersonen zwischen der eigenen Gemeinde, den Schweizer Behörden und der weiteren Öffentlichkeit. Für die Studie führten wir unter anderem Interviews mit Imamen durch. Einer sagte uns, dass sich immer mehr Moschee-Besucherinnen und -besucher eine Art «Super-Imam» wünschen.  

Was heisst das? 

Offenbar erwarten viele, dass ihr Imam nahezu ständig verfügbar ist, und zwar sowohl innerhalb der Glaubensgemeinschaft wie auch in einer breiteren Öffentlichkeit, also etwa für interkulturelle Vermittlung. Hinzu kommt, dass sich die Erwartungen innerhalb der Gemeinden teilweise zuwiderlaufen, vor allem bei unterschiedlichen Generationen. Die Schweizer Behörden wiederum erwarten von Imamen, dass sie einen Beitrag zur Integrationsförderung in den Gemeinden leisten. Kurz gesagt: Die Arbeitsbelastung ist hoch, die Entlöhnung jedoch tief – oder sie fehlt ganz. Ohne einen zusätzlichen Job kommt man als Imam in der Schweiz nicht über die Runden. 

Gibt es unter solchen Bedingungen genügend Nachwuchs?  

Der aktuelle Bedarf an Imamen in der Schweiz wurde von den Interviewten unterschiedlich eingeschätzt. Aber zumindest inländischer Nachwuchs fehlt weitgehend. Das liegt unter anderem daran, dass den hier aufgewachsenen Muslimen andere, besser entlöhnte Berufsfelder offenstehen. Doch der Bedarf an Imamen wird in den kommenden Jahren aus demografischen Gründen steigen. 

Würde eine Ausbildungsmöglichkeit in der Schweiz dieses Problem nicht entschärfen? 

Es ist nun einmal schlichtweg zu schwierig, gute Imam-Ausbildungen anzubieten. Das sehen wir in Deutschland und Frankreich, wo es solche Angebote gibt. Die Nachfrage pro Ausbildungsgang wäre zu gering, weil es zu viele Ausrichtungen innerhalb des Islams gibt.   

Wie sieht es bei anderen muslimischen Betreuungspersonen aus? 

Darin waren sich alle Interviewten einig: Es braucht in der Schweiz mehr muslimische Betreuungspersonen im Allgemeinen, also etwa für die Seelsorge und andere Bereiche der Sozialen Arbeit. Das ist insofern ein Problem, als sie hinsichtlich Radikalisierungsgefahr eine wichtige Präventionsfunktion einnehmen können, gerade in der Jugendarbeit, in Spitälern und im Strafvollzug. Anders als viele Imame sind sie gut integriert. Statt auf eine Imam-Ausbildung zu fokussieren, wäre es zielführender, wenn man die Weiterbildungsangebote für solche Betreuungspersonen ausbauen würde.  

Wo gibt es bereits solche Angebote? 

Die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich hat zusammen mit der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Fribourg mit dem Projekt «Zürich-Kompetenz» beauftragt. Dabei werden Weiterbildungsangebote konzipiert und durchgeführt. Auch am SZIG oder mit den interkulturellen CAS Seelsorge an der Universität Bern kann man sich weiterbilden. Solche Weiterbildungsangebote sollte man weiter ausbauen, vor allem auch im Bereich der Jugendarbeit, zu dem es bisher keine gibt. 

Radikalismus-Prävention: Studie zur Rolle muslimischer Betreuungspersonen

Im Auftrag des Bundesamts für Justiz und des Staatssekretariats für Migration untersuchte ein Forschungsteam des Instituts für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe, inwiefern eine Aus- und Weiterbildung von Imamen und anderen muslimischen Betreuungspersonen nach Schweizer Standards die Radikalisierungsprävention verbessern könnte. Der Auftrag geht auf ein Postulat aus dem Jahr 2016 zurück.  

Die Studie sollte klären: 1. Welche Rolle haben muslimische Betreuungspersonen und islamische Organisationen in der Schweiz? 2. Wie radikalisieren sich Menschen in der Schweiz zu islamistischem Extremismus? 3. Wie gestaltet sich die Radikalisierung beziehungsweise deren Prävention im Umfeld muslimischer Organisationen? 4. Wie sollte die Aus- und Weiterbildung islamischer Betreuungspersonen konkret ausgestaltet sein, um präventiv gegen Radikalisierung zu nützen? 

Die Analyse bestehender Studien, Daten und Berichte in Ergänzung mit leitfadengestützten Interviews ergab, dass muslimische Betreuungspersonen selten mit Radikalisierung direkt in Kontakt kommen und Schweizer Moscheen keine Horte der Radikalisierung darstellen. Dennoch können muslimische Betreuungspersonen eine präventive Rolle spielen, indem sie die Musliminnen und Muslime bei der sozialen Integration unterstützen sowie eine Brückenfunktion zu Behörden übernehmen. Sinnvoll wäre, solche Betreuungspersonen in weitere Institutionen und Bereiche einzubeziehen, unter anderem im Strafvollzug, in Spitälern, in der Armee, im Asyl- und im Bildungswesen. Ebenso sollten mehr Weiterbildungsangebote für muslimische Betreuungspersonen geschaffen werden. 

Durchgeführt wurde die Studie unter der Leitung von Miryam Eser Davolio, mit einem Beitrag von Hansjörg Schmid und Mallory Schneuwly Purdie vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Fribourg.