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Corona-Krise: Nimmt häusliche Gewalt zu?

Mehrere Länder melden einen starken Anstieg von häuslicher Gewalt. Gefährlicher als vorübergehend enge Wohnverhältnisse seien jedoch die langfristigen Folgen der Pandemie, sagt Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention.

Interview: Regula Freuler

Vergangene Woche meldete der Uno-Generalsekretär einen «erschreckenden» globalen Anstieg häuslicher Gewalt. In gewissen Ländern, sagte er, hätten sich seit Beginn der Corona-Pandemie die Anrufe bei Beratungsstellen vervielfacht. Wie sieht es in der Schweiz aus?

Dirk Baier: Es gibt meines Wissens bislang keine Hinweise, dass die Zahlen hierzulande deutlich ansteigen würden. Von einigen Fachstellen wird sogar ein Rückgang der Fälle gemeldet.  

Wie lässt sich das erklären?

Es bedeutet natürlich nicht, dass die Conona-Krise häusliche Gewalt verhindern oder verringern würde. Vielmehr führt der Lockdown dazu, dass häusliche Gewalt weniger entdeckt und seltener an die Fachstellen vermittelt wird. Die Schulen, die Vereine und andere öffentliche Einrichtungen sind geschlossen und können ihre Rolle, solche Fälle aufzudecken, nicht ausüben.

Rund 20 Prozent aller Meldungen über häusliche Gewalt kommen aus der Nachbarschaft, gemäss einem Bericht der NZZ. Da müssten doch schon viele Meldungen eingegangen sein, schliesslich halten sich die meisten Menschen jetzt vorwiegend zu Hause auf.  

Dem ist anscheinend nicht so. Die Nachbarschaft ist mit Blick auf die Meldungen durchaus wichtig, andere Bereiche wie die Schulen sind aber noch wichtiger. Was die Nachbarschaften angeht, so bin ich mir auch nicht sicher, ob sie in dieser Corona-Zeit wirklich besonders sensibel für häusliche Gewalt sind. Einerseits sind die Haushalte gezwungen, unter sich zu bleiben, den Blick also ganz auf sich und den eigenen Umgang mit der Krise zu richten. Um sich mit Nachbarinnen und Nachbarn zu beschäftigen, bleibt wenig Zeit. 

«Ein friedliebender Mann misshandelt nicht plötzlich seine Frau, nur weil er jetzt vier Wochen zu Hause bleiben muss»

Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW Soziale Arbeit

Es gibt aber viele Nachbarschafts-Aktionen, dadurch kommt man in Kontakt.  

Ja, aber gerade wenn man beispielsweise als älterer Mensch auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen ist, will man dieses Verhältnis sicher nicht durch eine Meldung belasten. Wichtig erscheint mir deshalb, dass die professionellen Akteure, Fach- und Beratungsstellen noch sichtbarer werden, etwa durch verstärkte Werbung oder durch Aktivitäten auf Social-Media-Plattformen. Dort, wo sich die Opfer von häuslicher Gewalt aufhalten, müssen sich jetzt auch die Professionellen aufhalten – und das ist in der Zeit eingeschränkter räumlicher Bewegung in erster Linie der digitale Raum.

Welches sind die Treiber häuslicher Gewalt, die jetzt während der Corona-Pandemie verstärkt wirken können?

Die Ursachen von häuslicher Gewalt lassen sich in zwei Bereiche einteilen: Es gibt die personalen und die situativen Ursachen. Personale Ursachen sind die Gewaltneigung einer Person, ihre Impulsivität oder fehlende Empathie. Die Corona-Pandemie spielt für diesen Bereich weitestgehend keine Rolle.  

Und die situativen Faktoren?

Dazu zählen stressauslösende Momente, zum Beispiel die Auflösung einer Beziehung, der Verlust einer Arbeitsstelle oder der Alkoholkonsum. Auch räumliche Enge kann in gewisser Weise Stress auslösen. Die Corona-Pandemie ist in dieser Hinsicht durchaus bedeutsam, weil sie in verschiedener Weise Stress auslösen oder verstärken kann. Zugleich ist auf zwei Dinge hinzuweisen: Erstens wirken stressauslösende Ereignisse immer im Zusammenspiel mit Personeneigenschaften. Ein grundsätzlich friedliebender Mann misshandelt nicht plötzlich seine Frau, nur weil er vier Wochen zu Hause bleiben muss. Zweitens ist häusliche Gewalt meist ein allmählich eskalierender Prozess. Die derzeitige Ausnahmesituation wird daher vor allem bereits bestehende Gewaltbeziehungen beeinflussen und nicht massenhaft neue Gewaltbeziehungen schaffen. Aus meiner Sicht ist daher der Einfluss der Corona-Krise auf häusliche Gewalt in kurzfristiger Perspektive nicht so sehr bedeutsam.  

Und langfristig?

Da mache ich mir schon viel eher Sorgen. Die Wochen, die wir gerade durchleben, werden die Gesellschaft verändern und vor allem die wirtschaftliche Lage verschlechtern. Mehr Arbeitslosigkeit und Armut werden die Folge sein. Die Corona-Krise wird die Polarisierung vorantreiben. Und wir wissen, dass die Verlierer dieser Polarisierung von Arbeitslosigkeit, Armut, Unsicherheit und Perspektivlosigkeit betroffen sind. Das macht anfällig sowohl für häusliche Gewalt wie auch für andere Formen der Gewalt und Kriminalität.

Inwiefern lässt sich in dieser Hinsicht die Schweiz mit anderen Ländern vergleichen?

Die Einflussfaktoren häuslicher Gewalt sind überall auf der Welt weitestgehend dieselben. Gleichwohl gibt es länderspezifische Schutzfaktoren. Und mit Blick auf einige Schutzfaktoren ist der Schweiz durchaus ein gutes Zeugnis auszustellen. Häusliche Gewalt wird in der Schweiz thematisiert und nicht tabuisiert. Es gibt Anlaufstellen für Opfer häuslicher Gewalt. Die Polizei hat unter anderem mit dem Bedrohungsmanagement eine Form der wirksamen Intervention bei häuslicher Gewalt eingeführt. Dennoch gibt es natürlich auch in der Schweiz noch einiges zu tun. Dazu gehören die Harmonisierung der Angebote zwischen den Kantonen, die Entwicklung von Angeboten für Zuwanderinnen und Zuwanderer und der Kapazitätsausbau von Frauenhäusern.

Der Uno-Generalsekretär fordert von den Regierungen weltweit, Gewalt gegen Frauen zu einem zentralen Teil ihrer nationalen COVID-19-Strategie zu machen. Welche Chancen hat ein solcher Aufruf?

Grundsätzlich halte ich es für sehr wichtig, in einer Zeit der gesundheitsbezogenen oder medizinischen Krise auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Bei den derzeitigen Herausforderungen könnte das sonst schnell vergessen gehen. Besser wäre freilich, häusliche Gewalt im Allgemeinen zu thematisieren, womit Kinder und Männer ebenfalls eingeschlossen wären. Inwieweit dieser Aufruf in die nationalen Strategien eingeht, hängt entscheidend davon ab, welche Relevanz das Thema generell – also schon vor der Pandemie – in Politik und Gesellschaft geniesst. In Russland würde ich beispielsweise bezweifeln, dass der Aufruf gehört wird. In den deutschsprachigen Ländern ist hingegen feststellbar, dass dem Thema die nötige Beachtung geschenkt wird.

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CAS Häusliche Gewalt