Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

Beraterin für NPO: «Macht ist ein Tabuthema in vielen sozialen Organisationen»

Digitalisierung, Klimakrise und Fachkräftemangel machen deutlich: Es braucht ein neues Verständnis von Arbeit und Führung. Aber wie sollten Organisationen dabei vorgehen? Empfehlungen von zwei Expert:innen.

Das Bedürfnis nach einer guten Work-Life-Balance der jüngeren Generationen erfordert ein neues Verständnis von Arbeit. (Bild: iStock)

Interview: Regula Freuler

Die Corona-Pandemie hat den digitalen Wandel beschleunigt und die Debatte um New Work befeuert. Die Sinnfrage hat in der Arbeitswelt eine beispiellose Bedeutung erhalten. Müssen sich auch soziale Organisationen, deren Kern seit jeher die Sinnhaftigkeit war, neu erfinden?
Dirk Osmetz: Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist doch vielmehr die: Inwiefern können Organisationen sich überhaupt neu erfinden?

Wie meinen Sie das?
Osmetz: Organisationen an sich sind nicht für Veränderungen gemacht, sondern genau für das Gegenteil: für Stabilität, Kontinuität, Verbindlichkeit. Menschen treten ihre Ressourcen an die Organisation ab und erwarten von dieser deren Koordination. Das hat zweifellos Vorteile. Aber eine Organisation kann Ungewissheit, deren Bearbeitung fast immer mit Innovation verbunden ist, nicht zulassen. Man könnte auch sagen: Dafür ist die Organisation einfach nicht gemacht. Es liegt also an den Menschen in den Organisationen, Neues anzuschieben.

«Organisationen sollten sich immer fragen: Welche Kennzahlen, die wir erheben, brauchen wir wirklich?»

Dirk Osmetz erforscht seit 20 Jahren Führung und Organisationen. Daraus entstanden die Musterbrecher Managementberater.

Francesca Tommasi: Wobei der Veränderungsbedarf durchaus wahrgenommen wird, und zwar nicht nur von einzelnen Mitarbeitenden, sondern auch auf Führungsebene. Ich werde von sozialen Organisationen kontaktiert, welche die eingangs genannten Herausforderungen spüren und erkennen, dass sie nicht adäquat darauf reagieren können. Ihre bisherigen Rezepte funktionieren nicht mehr.

Rezepte wofür?
Tommasi: Am häufigsten wird derzeit eindeutig der Fachkräftemangel thematisiert, gekoppelt mit den jüngeren Generationen von Arbeitnehmenden, denen eine Work-Life-Balance wichtig ist. Das Ganze ist mitunter gehörig in Schieflage geraten: Einerseits haben wir aus fachlichen Gründen, die wiederum politisch und gesellschaftlich breit abgestützt sind, hervorragend differenzierte Angebote im Sozialbereich. Ich denke da zum Beispiel an eine Time-out-Unterkunft für Jugendliche in schwierigen Situationen, die ich als Weiterbildungsdozentin kürzlich kennenlernte. Die Profession der Sozialen Arbeit fordert solche Angebote. Andererseits aber gibt es immer weniger Fachkräfte, die am Abend und am Wochenende arbeiten wollen – aber genau das ist nötig bei solchen Angeboten. Im Asylbereich und an den Schulen steht man vor ähnlichen Herausforderungen, um nur einige weitere Handlungsfelder zu nennen.

«Partizipation wird oft mit Jekami und Laisser-faire verwechselt.»

Francesca Tommasi ist ZHAW-Dozentin. Zudem begleitet sie Führungskräfte als Coach, Organisations- und Konfliktberaterin.

Sie, Dirk Osmetz, beschäftigen sich als Unternehmensberater seit vielen Jahren mit lähmender Routine und vermeintlich unveränderbaren Vorgaben «von oben» und plädieren dafür, dass Führungskräfte mit sogenannten Mustern brechen sollen. Mit welchen Mustern müsste man in sozialen Organisationen angesichts des Fachkräftemangels brechen?
Osmetz: Gewisse Ursachen des Fachkräftemangels können Unternehmen nicht allein beheben, zum Beispiel die noch fehlende Chancengleichheit im Bildungswesen. Aber ich behaupte, es gibt ein Muster, das wir an allen Stellen erleben, nicht nur im Sozialwesen. Es ist die einseitige Ausrichtung auf Effizienz. Am Ende ist irgendwann alles auf Kante genäht, dann fehlt die Robustheit komplett. Und wir erleben jetzt genau das. Das ist aus meiner Sicht das Hauptproblem. Man sieht es im Pflegewesen genauso wie in der Kinderbetreuung. Für Unvorhergesehenes ist niemand mehr gerüstet.

Ist das ein Appell an den Sozialstaat? Die Kosten in diesen Bereichen sind doch jetzt schon hoch.
Osmetz:
Zum einen ist es das tatsächlich. Das Geld muss gerechter verteilt werden. Zum anderen ist es ein Appell an Organisationen, zu hinterfragen, wie sie ihre Leistungen messen. Wir alle wissen, dass man Zahlen nur in begrenztem Umfang trauen kann. Dennoch tun wir es noch viel zu oft. Dabei unterliegen wir der Illusion, dass man Qualität, Leidenschaft und Begeisterung effizient organisieren und verordnen kann.

Aber gerade soziale Organisationen sind immer mehr gefordert, ihre Leistung und vor allem ihre Wirkung nachzuweisen. Finanzstellen und Spender:innen wollen wissen, ob ihr Geld sinnvoll eingesetzt wird.
Osmetz:
Das ist richtig, aber Organisationen sollten sich immer fragen: Welche Kennzahlen, die wir erheben, brauchen wir wirklich? Es sollten diejenigen sein, die nicht mit Ungewissheit zu tun haben, sondern bei denen man die Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse kennt. Kennzahlen sind nicht schlecht. Wir sind nur häufig zu sehr mit deren Erhebung und auch deren «Manipulation» beschäftigt und vergeuden damit die Zeit, die wir für die Klient:innen bräuchten.

Tommasi: Die Diskussion für oder wider die Erhebung von Kennzahlen halte ich für ziemlich unergiebig. Ich sehe vielmehr das Problem darin, dass die Kennzahlen zu wenig nutzbar gemacht werden. Und zu häufig fehlt der Mut, die Erhebung gewisser Kennzahlen wegzulassen. Diese kleinen Räume, in denen man sich neu orientieren kann, die muss man sich bewusst suchen.

Osmetz: Wir, also die Musterbrecher, waren vor einiger Zeit bei der Svenska Handelsbanken. Die schafft es seit 1974, sowohl auf Budgets als auch auf ein Bonussystem zu verzichten. Stattdessen führt man mit drei Kennzahlen das ganze Unternehmen: Kundenzufriedenheit, Aufwand-Ertrag-Verhältnis und Eigenkapitalrendite. Der Erfolgsmassstab ist nicht, ob vorab definierte Sollgrössen erfüllt werden, sondern es ist der relative Vergleich mit einer Peergroup in der Region. Statt einer flächendeckenden Digitalisierung, die überall standardisiert abläuft, setzt man bei der Svenska Handelsbanken auf Beziehung vor Ort.

Und was heisst das übersetzt für soziale Organisationen?
Osmetz:
Ich denke an zentrale Vorgaben zum Vergleich von Leistung, sagen wir: für Kitas. In vielen solchen Einrichtungen wird mit einer Ausführlichkeit dokumentiert, wie gut die Kinder schon die Rutschbahn benutzen, dass es an der Betreuungszeit abgeht. Dabei ist diese Detailgenauigkeit vielleicht gar nicht nötig. Dokumentation dient der Absicherung und soll vertrauensbildend wirken.

Tommasi: Sie kann aber genau ins Gegenteil umschlagen, nämlich in Misstrauen.

Osmetz: Oder in Demotivation. Im Rahmen unserer Musterbrecher-Recherchen stiessen wir auf einen Industriebetrieb, in dem unmittelbar nach der Einführung der elektronischen Arbeitszeiterfassung die Mitarbeitenden gemeinsam überlegten, wie man dieses System austricksen konnte. Sie empfanden die Zeiterfassung als Bevormundung. Das gilt auch für die Einführung neuer Prozessmanagement-Tools. In gewissen Fällen erleichtern sie die Arbeit ungemein und steigern damit die Motivation. Aber sie können auch unnötige Zeitfresser sein und sich extrem demotivierend auswirken.

Wozu raten Sie also?
Osmetz:
Man sollte die bestehenden Reglemente oder Tools zuerst prüfen, bevor man zu schnell noch eins obendrauf packt mit dem Argument, einen Sicherheitspuffer zu schaffen. Was ich damit sagen will: Wer in seiner Organisation vermeintlich professionelles Handeln stärken will, muss vorab allfällige Nebenwirkungen bedenken.

Aber es treten auch neue Ansprüche von aussen an eine Organisation heran, zum Beispiel die Forderung nach Nachhaltigkeit oder Chancengleichheit.
Osmetz:
Für solche Begriffe gibt es den Ausdruck «Plastikwörter». Niemand ist dagegen, wenn ein Unternehmen sich solche Ziele oder Werte auf die Fahne schreibt. Aber die Gefahr liegt darin, dass jede:r sie anders interpretiert. Gerade soziale Organisationen, bei denen diese Themen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sind oder sein sollten, müssen zuerst genau definieren, was sie darunter verstehen.

Ein Beispiel?
Osmetz:
Das Wort «Vertrauen». Wer von Vertrauen am Arbeitsplatz spricht, aber für jede noch so kleine Anschaffung eine Bewilligung verlangt, torpediert seine eigentlichen Ziele.

Wie sieht es mit dem Begriff «sinnstiftend» aus?
Tommasi:
Es gibt die These, dass soziale Organisationen sich grundsätzlich viel intensiver und selbstverständlicher mit Werten auseinandersetzen als andere Unternehmen und diese auch stärker leben. Was man in der Praxis aber auch sieht: Sie leben die Werte vor allem gegen aussen.

Was heisst das?
Tommasi:
Sie setzen gegenüber ihren Kund:innen oder Klient:innen um, was sie sich vornehmen, aber eben nicht gegenüber ihren Mitarbeitenden, also nach innen.

Wie kommt es dazu?
Tommasi:
Wir reden hier im Grunde über Macht, und das ist ein Tabuthema in vielen sozialen Organisationen. Man geht davon aus, dass man auf der sogenannt guten Seite steht. Gerade wenn man aber dieser Überzeugung ist, lohnt es sich, genau hinzuschauen und sich zu fragen: Wie gehen wir mit Macht um?

Ich werfe einen weiteren Begriff in die Runde, der inflationär verwendet wird: «Partizipation».
Osmetz:
Auch er hat viele Eigenschaften eines Plastikwortes. Denn natürlich traut sich niemand, etwas gegen Partizipation zu sagen – aus guten Gründen. Mitreden und mitbestimmen zu können, ist wichtig für die Selbstwirksamkeit und oftmals entscheidend für das Gelingen eines Projektes, weil es dann eher von allen mitgetragen wird. Aber es wird oftmals als Synonym für Schwarmintelligenz genutzt, und das ist trügerisch.

Weshalb?
Osmetz:
Weil Menschen sich nicht intelligenter verhalten im Schwarm, gerade im Bereich der Innovation. In zahlreichen Studien wurde festgestellt, dass grosse Gemeinschaften sich auf jene Lösung einigen, die am wenigsten schadet. Das geht sogar so weit, dass man nicht mehr zu seinem Wissen steht, sondern einfach den Konsens sucht. Den vielbesagten kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir sind in dieser Hinsicht eben komplexer als Bienen und Vögel.

Wie entstehen denn dann Neuerungen?
Osmetz:
Menschen brauchen kleine Gruppen dazu.

Tommasi: Das ist das eine. Aber ein Problem ist auch, dass Partizipation oft mit Jekami und Laisser-faire verwechselt wird. Partizipative Projekte – wenn wir den Begriff «Schwarm» einmal weglassen wollen – können jedoch nur dann gelingen, wenn es eine genaue Vorbereitung und einen klaren Fokus gibt.

Osmetz: Ich würde noch ergänzen: Partizipation ist dann sinnvoll, wenn das Ergebnis völlig ungewiss ist. Dann kann man nämlich auch nicht nach Prozessen rufen, schlicht aus der Tatsache heraus, dass es keine gibt. Das mag angsteinflössend sein. Sollte es aber nicht. Denn Menschen sind gut darin, mit Überraschungen umzugehen – viel besser als Algorithmen es sind. Experimentieren in der Zusammenarbeit, das ist der Kern, der für Organisationen wichtig ist, seien es nun soziale oder andere.

New Work: Weiterbildungsangebote für Non-Profit-Organisationen

CAS Inventing Organizations – Zukunft und Zusammenarbeit in neuen Arbeitswelten

  • Studienleitung: Francesca Tommasi, Jens Martignoni
  • Start: 24.1.2023

CAS Führung und Zusammenarbeit in NPO

  • Studienleitung: Francesca Tommasi
  • Start: 9.1.2023