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Arbeitsintegration im Dilemma: «Die Betroffenen haben keine Lobby»

Erwerbslose Menschen riskieren, bei Aushandlungen zwischen staatlichen Stellen und Anbietern von Dienstleistungen zum Spielball zu werden, sagen Fatoş Bağ von Arbeitsintegration Schweiz und ZHAW-Dozent Peter Streckeisen im Gespräch.

Interview: Regula Freuler

Fatoş Bağ, als Geschäftsleiterin von Arbeitsintegration Schweiz sagen Sie, dass Unternehmen mit arbeitsmarktlichen Massnahmen zunehmend zwischen Markt und Staat aufgerieben werden. Was heisst das?

Fatoş Bağ: Kurz gesagt: Diese Unternehmen sollen Menschen möglichst gut und rasch für den ersten Arbeitsmarkt fit machen, sind aber an Vorgaben durch die finanzierenden staatlichen Stellen gebunden. Dadurch werden sie in ihrem Auftrag eingeschränkt. Ein Beispiel: Kürzlich haben uns Organisationen kontaktiert, die keine Rückstellungen bilden dürfen. Das Seco – das Staatssekretariat für Wirtschaft – gewährt zwar Ausnahmen, aber auch dies nur unter strengen Vorgaben. 

Was bedeutet das für diese Organisationen?

Bağ: Sie haben überhaupt kein Geld für unvorhergesehene Situationen, die etwa mit der Fluktuation der Arbeitslosenzahlen einhergehen. Die Organisationen sollen innovativ sein, um mit den Entwicklungen auf dem ersten Arbeitsmarkt mithalten zu können, verfügen aber über keine Mittel für Innovationen und die Entwicklung neuer Massnahmen.

«Wenn die berufliche Integration nicht nachhaltig ist, kostet das die Sozialwerke am Ende mehr.»

Fatoş Bağ, Geschäftsleiterin Arbeitsintegration Schweiz

Was steht hinter dem Wunsch, Reserven bilden zu dürfen?

Bağ:  Unsere Mitglieder sind überzeugt, dass sie mit mehr Reserven ihre Attraktivität als Arbeitgebende steigern. Die Bildung von Reserven würde mehr Flexibilität bei Ressourcenmanagement ermöglichen, was längerfristig die Arbeitsqualität steigert.

Warum machen die Vorgaben den Organisationen heute mehr Probleme als früher? 

Peter Streckeisen: Man kann grob zwischen drei Modellen der Finanzierung von ergänzenden Arbeitsplätzen unterscheiden. Das älteste ist das klassische Subventionsmodell. Dabei kommen die Anbieter, also die Organisationen, mit Angeboten, und der Staat übernimmt die Kosten. Seit den 1990er-Jahren setzte sich zunehmend das Modell mit den Leistungsvereinbarungen durch: Der Staat beauftragt die Organisationen und kann dadurch steuernd eingreifen. Das dritte und jüngste Modell sind die öffentlichen Ausschreibungen. Dabei werden Programme öffentlich ausgeschrieben, Organisationen, die Programme anbieten, können sich bewerben. 

«Die durch den Staat vorgegebenen Kennzahlen zur Wirkungsmessung stehen für Fachpersonen der Sozialen Arbeit mitunter im Widerspruch zur Professionsethik.»

Peter Streckeisen, ZHAW-Dozent und -Forscher

Tagung «Arbeitsintegration quo vadis – Gibt der Markt die Richtung vor?»

Möglichst nahe am Markt – dieses Motto wird in der Arbeitsintegration oft hochgehalten. Ist dies ein sinnvoller Grundsatz oder ein problematisches Dogma? Antworten bietet die erste Zürcher Fachtagung Arbeitsintegration.

Wann: Mittwoch, 15. Juni 2022, 9.15 bis 16.30 Uhr
Wo: Campus Toni-Areal, Pfingstweidstrasse 96, 8005 Zürich

Weitere Informationen und Anmeldung

Wie wird das Ausschreibungsverfahren und die Zusammenarbeit mit Leistungsvereinbarungen von den Organisationen beurteilt?

Bağ: Sehr kontrovers. Einige sehen sich dadurch enorm unter Druck gesetzt. Laut Gewerkschaften wie dem Schweizerischen Verband des Personals öffentlicher Dienste VPOD und der Unia haben sich die Arbeitsbedingungen dadurch verschlechtert. 

Warum?

Es gibt einen Kostendruck auf die Organisationen. Diese wiederum geben den Druck an die Mitarbeitenden weiter. Die Unternehmen würden konkurrenzieren statt zu kooperieren, lautet die Kritik der Gewerkschaften. 

Gibt es regionale Besonderheiten?

Streckeisen: Es gibt eine Kluft zwischen Deutschschweiz und lateinischer Schweiz. Das Modell mit den Ausschreibungen wird vor allem in der Deutschschweiz praktiziert. Auch in anderen Ländern, etwa Grossbritannien, kommt das Modell oft zur Anwendung. Grosse, kommerziell orientierte Anbieter kommen dadurch eher zum Zug, aber sie geben dann auch Aufträge an kleinere Organisationen weiter. Das ist eine Art Sub-Contracting. 

Welche Art von Innovation würden diejenigen Organisationen, die von den staatlichen Regelungen stark betroffen sind, anstreben?

Bağ: Das Hauptziel der Organisationen der Arbeitsintegration ist ja, ihre Klientinnen und Klienten fit zu machen für den ersten Arbeitsmarkt – und auch für den zukünftigen Arbeitsmarkt. Dementsprechend müssen sie ihre Programme innovativer ausgestalten. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, mit dem Ziel zu untersuchen, wie unsere Mitglieder die zukunftsorientierte Entwicklung ihrer Angebote vorantreiben. Viele Organisationen sehen Bedarf, dies zu tun, haben aber teilweise die nötigen Mittel nicht. Deshalb könnte man teilweise von einem Innovationsstau sprechen.

Streckeisen: Was man beobachten kann, ist ein Hin und Her zwischen Anbietern und den zuständigen staatlichen Stellen. Es kommt oft vor, dass die Verantwortlichen von staatlichen Stellen auf Anbieter zugehen und ihnen vorschlagen, ein neues Angebot für einen bestimmten Bereich oder für eine Zielgruppe zu entwickeln.

Wie kommt das in der Branche an?

Bağ: Im Normalfall werden die Angebote gemeinsam entwickelt. Aber erwünscht wäre, wenn auch die Akteure des Arbeitsmarktes, wie beispielsweise Organisationen der Arbeitswelt oder Branchenverbände, involviert wären. Schliesslich liefern unsere Verbandsmitglieder die Arbeitskräfte für sie. 

Streckeisen: Solange man den zweiten Arbeitsmarkt rigide vom regulären Arbeitsmarkt trennt, kommt man nicht aus den Widersprüchen heraus, die Fatoş Bağ erwähnt hat. Interessant ist, dass Institutionen der Behindertenhilfe sich heute zunehmend als Sozialunternehmen verstehen, die sagen: Wir erhalten eine Finanzierung vom Staat für den besonderen Betreuungsaufwand unserer Klientinnen und Klienten, aber im Übrigen wirtschaften wir wie alle anderen auch. Im Gegensatz zu Anbietern von arbeitsmarktlichen Massnahmen für die Arbeitslosenversicherung unterstehen sie auch keinem Konkurrenz- oder Gewinnverbot. 

Wie wirken sich die Beziehungen zwischen dem Staat und den Anbietern auf die Tätigkeiten der Fachpersonen im Feld der Arbeitsintegration aus?

Streckeisen: Wie alle Fachpersonen im direkten Kontakt mit Klientinnen und Klienten verfügen sie über gewisse Spielräume. Aber die durch den Staat vorgegebenen Kennzahlen zur Wirkungsmessung stehen mitunter im Widerspruch zu ihrer Professionsethik. Und bisweilen ist der Druck enorm, erwerbslose Personen so rasch wie möglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, selbst wenn es sich um prekäre Arbeitsstellen handelt, die berufliche Integration nicht nachhaltig ist oder den Betroffenen keine Entwicklungsperspektiven bietet.

Werden damit letztlich die erwerbslosen Menschen zum Spielball der Aushandlungen zwischen staatlichen Stellen und Anbietern von Dienstleistungen der Arbeitsintegration?

Streckeisen: Die Gefahr ist real, selbst wenn alle nur das Beste für sie wollen. Die Betroffenen haben keine Lobby oder Interessenvertretung. Es wird von ihnen erwartet, dass sie sich dankbar für jedes Hilfsangebot zeigen. Bei manchen Anbietern werden die Betroffenen übrigens nicht so rasch wie möglich vermittelt, sondern erhalten unbefristete Anstellungen. Der Anbieter hat ein Interesse, dass jene, die sich bewährt haben, längerfristig bleiben statt eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt anzutreten.

Bağ: Ich kann dem nur beipflichten: Wenn die Zusammenarbeit zwischen finanzierenden staatlichen Stellen und umsetzenden Anbietern nicht optimal funktioniert, leiden sowohl die Fachpersonen im Feld – beispielsweise unter schlechten Arbeitsbedingungen wie Kosten- und Integrationsdruck – als auch die Betroffenen. Wenn die berufliche Integration nicht nachhaltig ist, werden diese Personen auch nicht nachhaltig abgelöst, sondern kommen nie wirklich heraus aus der Prekarität. Am Ende kostet das auch die Sozialwerke wieder mehr.