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Bei dschihadistischer Radikalisierung ist die Schweiz fast gleichauf mit Deutschland

Rund 40 Prozent der dschihadistisch Radikalisierten in der Schweiz beziehen Fürsorgeleistungen. Das zeigt eine durch erweiterte Datengrundlage ermöglichte ZHAW-Folgestudie. Zudem ist der Anteil der Konvertiten mit rund 20 Prozent überproportional.

Dschihadistische Radikalisierung betrifft in der Schweiz mehrheitlich junge Männer aus der Agglomeration mit tendenziell niedrigem Bildungsstand und geringer Arbeitsintegration. Einige von ihnen sind zudem mit sozialen und psychischen Problemen konfrontiert und hatten bereits vor ihrer Radikalisierung einen kriminellen Hintergrund. Dies zeigen aktualisierte und erweiterte Daten zur 2015 durchgeführten ZHAW-Studie «Hintergründe dschihadistischer Radikalisierung in der Schweiz» unter Leitung von Miryam Eser Davolio. Datengrundlage bildet eine quantitative Analyse der vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) zur Verfügung gestellten Informationen zu den Hintergründen dschihadistischer Radikalisierung sowie Interviews mit verschiedenen Akteuren. Die Daten zeigen, dass rund 40 Prozent der 130 erfassten dschihadistisch radikalisierten Personen von staatlicher Unterstützung (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, IV oder Flüchtlingshilfe) abhängig sind. Dies stellt die Resozialisierung vor eine besondere Aufgabe in Be-zug auf die Integration.

Genf am stärksten betroffen

Bei der geografischen Verteilung der dschihadistischen Radikalisierung sind regionale Unterschiede zu beobachten. So ist die Region Genf beispielsweise stärker betroffen als die übrige Schweiz. Auch im Vergleich der europäischen Länder gibt es Unterschiede. In Relation zur Gesamtbevölkerung weist die Schweiz eine deutlich höhere Ratio an Dschihadreisenden auf als Italien und eine geringfügig geringere als Deutschland. Die Schweiz ist jedoch nicht so stark vom Problem dschihadistischer Radikalisierung betroffen wie Frankreich, Belgien oder Österreich. Die Studie zeigt auch, dass der Anteil an Konvertiten an den Dschihadreisenden mit rund 20 Prozent überproportional hoch ausfällt. Da diese in der Regel vor der Radikalisierung nicht straffällig waren, warnt Miryam Eser Davolio vor einer Stereotypisierung.

Betroffene von dschihadistischer Radikalisierung zeichnen sich oft durch eine Distanzierung von der Gesellschaft aus, so eine weitere Erkenntnis der ZHAW-Studie. «Ein frühzeitiges Erkennen von Desintegrationstendenzen etwa in den Bereichen Schule und Arbeit oder von kriminellen Aktivitäten erhöht die Erfolgschancen von Präventions- und Interventionsmassnahmen», erklärt Miryam Eser Davolio. Dazu brauche es einen multiperspektivistischen Ansatz, der die unterschiedlichen Defizite und Bedürfnisse gefährdeter Personen in den Blick nehme. Wichtig seien auch gezielte Schutzmassnahmen, die letztlich vor Propaganda und Rekruteuren schützen würden. «Die Studie lässt den Schluss zu, dass der Konsum von entsprechenden Inhalten im Internet eine wichtige unterstützende Bedingung ist, jedoch nur in sehr seltenen Fällen ausreicht für eine Radikalisierung», erklärt Eser Davolio. Entscheidender seien diesbezüglich Gruppendynamiken und realweltlicher Kontakt mit Gleichgesinnten.

Folgen für den Strafvollzug

Der Strafvollzug müsse sich den Herausforderungen von dschihadistisch radikalisierten Insassen stellen, was die Platzierung, den Vollzug sowie das institutionelle und individuelle Monitoring betreffe, ist Eser Davolio überzeugt. «Hier sind die Strafvollzugsanstalten gefordert, Konzepte für einen bewussten Umgang mit vorhandenen Risiken zu entwickeln.» Es gelte, die Bereiche Bewährungshilfe und Sozial Arbeit, aber auch Therapie, Vollzugspersonal und Seelsorge einzubeziehen und gezielt weiterzubilden, damit diese über genügend Hintergrundwissen und Handlungskompetenzen für einen aufmerksamen, professionellen Umgang mit radikalisierten Personen verfügen. Da es aufwändig ist, dies flächendeckend umzusetzen, schlagen die Studienautoren als möglichen Ansatz den Ausbau von landesweit zwei bis drei Strafvollzugsanstalten zu Kompetenzzentren mit einem Schwerpunkt auf dschihadistisch radikalisierte Insassen vor. Deren Mitarbeitenden würden spezifische Weiterbildungen absolvieren, die derzeit noch fehlen, und sich untereinander vernetzen.

Daneben sind seit 2015 schweizweit die Fachstellen «Extremismus» und «Brückenbauer» ausgebaut worden, insbesondere in Städten und Kantonen, die von dschihadistischer Radikalisierung betroffen waren oder sind. Um ein gut funktionierendes flächendeckendes Angebot gewährleisten zu können, empfehlen die ZHAW-Studienautoren, zum einen Mindestanforderungen zu definieren und zum anderen den Erfahrungsaustausch zwischen den Disziplinen und Fachstellen weiter zu unterstützen.

Kontakt

ZHAW Soziale Arbeit, Prof. Dr. Miryam Eser Davolio, Telefon 058 934 88 76, E-Mail miryam.eserdavolio@zhaw.ch

ZHAW Soziale Arbeit, Medienstelle, Nicole Koch, Telefon 058 934 88 26, E-Mail nicole.koch@zhaw.ch