Eingabe löschen

Kopfbereich

Schnellnavigation

Hauptnavigation

«Viele Lehrpersonen sind unsicher im Umgang mit psychischen Belastungen»

Die Schulen spielen in der Früherkennung psychischer Belastungen bei Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle. Den Lehr- und Betreuungspersonen müssten dafür jedoch mehr Ressourcen und Informationsmaterialen zur Verfügung gestellt werden, sagt Julia Dratva vom ZHAW-Institut für Gesundheitswissenschaften. Sie hat die psychische Gesundheitskompetenz an Winterthurer Schulen in einer Studie untersucht.

Julia Dratva, Sie haben die psychische Gesundheitskompetenz von Lehr- und Betreuungspersonen an Winterthurer Schulen untersucht. Weshalb ist es wichtig, dass Lehr- und Betreuungspersonen über ausreichend Kompetenzen beim Erkennen und im Umgang mit psychischen Belastungen verfügen?
Die Schule ist ein Lebensraum, in dem Kinder und Jugendliche viel Zeit verbringen. Dementsprechend sind die Lehr- und Betreuungspersonen sehr nah an den Kindern. Im Vergleich zu den Eltern oder anderen Bezugspersonen haben sie aber gleichzeitig eine gewisse emotionale Distanz, haben den Vergleich mit anderen Kindern oder merken, wenn sich ein Kind beispielsweise nach den Sommerferien stark verändert hat. Dadurch erkennen sie häufig viel früher als andere Personen im Umfeld eines Kindes, wenn dieses psychisch belastet ist oder Störungen aufweist. Diese Früherkennung ist für den Verlauf einer psychischen Erkrankung zentral, um frühzeitig reagieren, intervenieren und Hilfe anbieten zu können. Hier kommt den Lehrpersonen eine zusätzliche wichtige Rolle zu. 

Hat diese Rolle im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie noch an Bedeutung gewonnen?
Ja, für das Schulpersonal bedeutet die Pandemie im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit der Schülerinnen und Schüler eine zusätzliche Herausforderung. Es ist wissenschaftlich zunehmend belegt, dass Kinder und Jugendliche während der Corona-Zeit deutlich mehr psychische Belastungssymptome und psychische Störungen aufweisen. Die Evidenz dazu ist besser in anderen Ländern, aber auch in der Schweiz haben wir klare Hinweise darauf. So verzeichnete beispielsweise Pro Juventute eine markante Zunahme an Beratungen von Kindern und Jugendlichen seit Ausbruch der Pandemie. Somit ist zu erwarten, dass auch in den Schulen Kinder und Jugendliche aufgrund von Corona mit psychischen Belastungen konfrontiert worden sind. Aus Schulkreisen hört man zudem, dass einige Kinder in ihrem Lernerfolg durch die Pandemie eingeschränkt worden sind. Dies trägt zur Belastung von Schülerinnen und Schülern, aber auch des Lehrpersonal sicher noch bei. 

Lehrpersonen haben bereits sehr viele Aufgaben, der Lehrplan ist dicht. Was können die Schulen hier zeit- und ressourcenmässig zur Förderung der psychischen Gesundheit von Schülerinnen und Schülern überhaupt noch leisten?
Was man klar sagen muss: Niemand erwartet von Lehrerinnen und Lehrern, dass sie Diagnosen stellen. Ihre Hauptaufgabe ist es, Wissen und Kompetenzen an die Kinder zu vermitteln. Kinder mit psychischen Störungen oder Belastungen weisen allerdings oft einen verminderten Lernerfolg auf. Insofern kommen Lehrpersonen um das Thema psychische Gesundheit gar nicht herum, wenn sie ihren Klassen wissen und Kompetenzen erfolgreich vermitteln möchten. Wenn Lehrerinnen und Lehrer wachsam sind, Signale erkennen und frühzeitig die nächsten Schritte einleiten, ist viel gewonnen. Natürlich müssen dafür aber auch genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Solche forderten auch die in unserer Studie befragten Lehrpersonen: Viele äusserten den Wunsch, für das Thema mehr Unterrichtszeit zur Verfügung zu haben – wofür dann allerdings bei anderen Inhalten Abstriche gemacht werden müssten. Es gibt aber auch andere Ansätze, die fast ohne zusätzliche Ressourcen auskommen: Dazu gehört etwa ein Schulklima, in dem über die psychische Gesundheit geredet werden kann. Ein solches Klima ist schon sehr hilfreich, weil dann auch der Zugang zu betroffenen Schülerinnen und Schülern und deren Eltern sehr viel einfacher ist.

Zu welchem Schluss kommen Sie aufgrund der Studie: Verfügen die Lehr- und Betreuungspersonen grundsätzlich über eine ausreichende psychische Gesundheitskompetenz?
Aus der Studie kommt klar raus: Das Thema ist den Lehr- und Betreuungspersonen an den Winterthurer Schulen ein grosses Anliegen. Mehr als ein Drittel der Studienteilnehmenden ist diesbezüglich schon selbst aktiv geworden und hat eigenständig Aktivitäten und Massnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit in den Schulalltag eingebaut. Auch auf Ebene der einzelnen Schulen bestehen Angebote. Nichtsdestotrotz haben wir einen beachtlichen Anteil an Lehrpersonen, die sich unsicher fühlen im Umgang mit psychisch belasteten Schülerinnen und Schülern. Nicht unbedingt im direkten Kontakt mit den Schülern und den Eltern – hier trauen sich die meisten zu, das Gespräch zu suchen. Unsicherheiten bestehen aber etwa beim Erkennen spezifischer Krankheitsbilder wie Online-Sucht oder Suizidalität, aber auch dabei, externe Fachpersonen zum richtigen Zeitpunkt beizuziehen.

Was können die Schulen tun, um diesen Unsicherheiten zu begegnen?
Es wäre sicher sinnvoll, das Thema psychische Gesundheit im Schulalltag und in den Unterricht zu integrieren. Die Studienteilnehmenden fanden auch, dass sie zum Thema gerne mehr Materialien und Tools zur Verfügung hätten und Weiterbildungen besuchen möchten. Zur Gesundheitskompetenz gehört ja, Informationen finden, verstehen und umsetzen sowie das erworbene Wissen umsetzen zu können. Ein Grossteil der Lehrpersonen findet zwar entsprechende Informationen zu psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen. 80 Prozent empfanden das Beurteilen der Informationen aber als ziemlich bis sehr schwierig. Daher wäre es hilfreich, spezifisches Material zu erarbeiten, das vom Lehr- und Betreuungspersonal verwendet werden kann und für das Thema sensibilisiert. Ausserdem sollte die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern bereits in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern viel präsenter sein.

Bräuchte es dafür einen nationalen Fahrplan?
Der Lehrplan 21 bietet eigentlich bereits für alle Schweizer Schulen die Grundlage für die Förderung der psychischen Gesundheit. Er gibt ja vor, dass Gesundheit und Gesundheitskompetenzen im weitesten Sinne im Unterricht thematisiert werden sollen. Insofern wäre eine verstärkte Auseinandersetzung mit psychischer Gesundheit an den Schulen ohne weiteres möglich. Neben einer Sensibilisierung auf nationaler Ebene, die durchaus wünschenswert ist, sollte man jedoch auf spezifische regionale und lokale Unterschiede Rücksicht nehmen und den Schulen bei der Umsetzung Freiheiten lassen.

Lassen sich die Erkenntnisse aus den Winterthurer Schulen auf die gesamte Schweiz übertragen?
Einzelne Ergebnisse sollte man nicht übertragen, dafür ist das Schulwesen in der Schweiz aufgrund des Föderalismus und der kulturellen Unterschiede zwischen den Sprachregionen zu divers. Was aber die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern angeht, so sind die Winterthurer Schulen kein Sonderfall - mit diesen Herausforderungen sind sämtliche Schulen in der Schweiz konfrontiert.

Julia Dratva
Leiterin Forschung am Institut für Gesundheitswissenschaften