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«Jugendliche aus dem autistischen Spektrum müssen am sozialen Leben teilhaben können»

Beate Krieger arbeitet seit über zwanzig Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Nun hat die Ergotherapeutin in ihrer Doktorarbeit untersucht, was das Umfeld dazu beitragen kann, dass Jugendliche mit Autismus Spektrum Störung (ASS) vermehrt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Die Resultate möchte sie längerfristig nutzen, um ein Interventionsprogramm zu entwickeln.

In Ihrer Doktorarbeit geht es um die Partizipation von Jugendlichen mit ASS. Weshalb?

Jugendliche mit einer Autismus Spektrum Störung (ASS) partizipieren deutlich weniger als andere Gleichaltrige – sei es zu Hause, in der Schule oder im gesellschaftlichen Leben wie beim Sport oder beim Einkaufen. Dies belastet sowohl sie selbst als auch ihr Umfeld und hat auch langfristige negative Folgen. So können die Betroffenen im Erwachsenenleben etwa seltener arbeiten oder selbstständig leben, was nicht zuletzt auch gesellschaftliche Kosten nach sich zieht. Da sich die Partizipationserfahrungen von Jugendlichen stark auf die Partizipation im Erwachsenenalter auswirken, ist es wichtig, dass Jugendliche mit ASS eine Vielzahl positiver Erfahrungen sammeln können. 

Weshalb richteten Sie Ihr Augenmerk auf den Einfluss des Umfelds?

Einerseits fokussierten bisherige Interventionsansätze bei ASS primär auf das Individuum, also darauf, dass sich die einzelne Person ändert. Gleichzeitig gibt es aus der Forschung Hinweise, dass Umweltaspekte wichtig sind für die Partizipation von Menschen aus dem autistischen Spektrum. Allerdings wurden diese Effekte bislang kaum systematisch untersucht und entsprechende Daten fehlten – besonders in der Schweiz. Mit meiner Doktorarbeit wollte ich die Bedeutung der Umwelt und des Umfelds herausarbeiten, denn diese bieten vielfältige Möglichkeiten für zukünftige Interventionen. 

In der Verteidigung Ihre Doktorarbeit haben Sie von einem Jungen namens «Luc» erzählt. Worum ging es?

Luc war etwa zwölf, als er zu mir in die Ergotherapie kam. Er ging damals begeistert ins Taekwondo – immer begleitet von seiner Schwester. Eines Tages zeigte mir seine Mutter eine SMS, die sein Trainer den anderen Jugendlichen im Team geschickt hatte. Der Trainer bat die Kinder darin, sich vorzustellen, sie würden im Training gemieden und ausgegrenzt – wie Luc. Er fragte sie, ob sie unter diesen Umständen auch noch ins Training kämen und deutete an, wie viel das ganze Team von Lucs Durchhaltewillen, seiner Zuverlässigkeit und Treue lernen könnte. Ausgelöst durch diese SMS änderte sich für Luc viel. 

Was denn?

Die Jugendlichen bezogen ihn im Training mehr ein und sprachen Luc direkter an, wenn sie etwas an seinem Verhalten störte. Zudem informierte der Trainer die Kinder über Lucs Autismus und motivierte ihn, sich für die Paralympics anzumelden. Heute reist Luc begleitet von seinem Trainer und jeweils einem Jugendlichen aus seinem Team an Meisterschaften in ganz Europa. 

Was zeigt Lucs Geschichte?

Sie macht sichtbar, wie viel das Umfeld bewirken kann. Angefangen bei der Schwester, die ihren Bruder als vertraute Person begleitet – ein Faktor, der absolut essenziell ist, damit Jugendliche mit ASS partizipieren. Über den Trainer, der Lucs Anstrengungen wertschätzte, seine Teamkollegen motivierte und ihm viel Sicherheit bot. Bis hin zu den Jugendlichen, die ihre Haltung Luc gegenüber angepasst haben und nun auch von seinen Fähigkeiten profitieren und mit ihm reisen können.

Was sind die Hebel, um die Partizipation von Jugendlichen mit ASS zu fördern?

In meiner Doktorarbeit habe ich sieben Aspekte herausgearbeitet, die für die Partizipation von Jugendlichen mit ASS wichtig sind: 1. Das elterliche und familiäre Umfeld, 2. das soziale Umfeld, 3. angepasste Informationen, 4. Motivation, 5. physische Aspekte, 6. Einstellungen und 7. Services und Dienstleistungen. Diese Aspekte sind alle relevant, um den Jugendlichen Sicherheit zu vermitteln und ihnen in sozialen Situationen zu helfen. 

Welche sind am wichtigsten?

Das elterliche und familiäre Umfeld. Allerdings muss gerade dieses entlastet werden, denn die Eltern investieren bereits all ihre Ressourcen in die Teilhabe ihrer Kinder. Dabei wird die gesellschaftliche Teilhabe neben dem häuslichen Leben und der Unterstützung für die Schule eher hintenangestellt. Das soziale Umfeld, vor allem Gleichaltrige, ist ebenfalls sehr wichtig. Dieses erleben Jugendliche mit ASS zwar während des Schulbesuchs, jedoch kaum ausserhalb, in Form von Freundschaften oder Begegnungen mit Kindern aus der Nachbarschaft. Ein umweltfokussierter Ansatz bietet neue Möglichkeiten, die Partizipation dieser Jugendlichen zu unterstützen: Eltern können etwa gecoacht werden, wie sie konkret Beziehungen zu anderen Kindern pflegen können. 

Was genau verstehen Sie unter den anderen Aspekten «Informationen», «Motivation» und «Einstellungen»?

«Angepasste Informationen» bedeutet, dass Jugendliche mit ASS klare, detaillierte und vorgängige Informationen benötigen, damit sie sich auf Unbekanntes einlassen und partizipieren können. Ein bisher wenig erforschter Aspekt ist die «Motivation» zur Teilhabe. Jugendliche mit ASS partizipieren nicht automatisch, weil jedes neu Partizipationsfeld viel Unbekanntes birgt. Da sie gern mit vertrauten Personen zusammen sind, können diese sie zu gemeinsamen Aktivitäten motivieren. Weitere motivierende Ansätze sind ihre spezifischen Interessen, ihr ausgeprägtes Pflichtgefühl oder ihre Freude an Regelmässigkeit. Bei der physikalischen Umwelt geht es darum, dass Jugendliche mit ASS Sinneseindrücke wie Lärm oder Licht oft sensibler wahrnehmen. Es hilft ihnen, wenn sie diese beeinflussen und regulieren können. Der Aspekt «Einstellungen» bezieht sich auf Haltungen und negative Vorurteile gegenüber Menschen mit ASS. Darunter leiden sowohl die Jugendlichen als auch deren Angehörige sehr. Wie Einstellungen beeinflusst werden können, zeigt das Beispiel von Luc sehr gut auf.

Wo kommen Gesundheits- und andere Fachpersonen ins Spiel?

Beim letzten Aspekt «Services und Dienstleitungen». In der Schule sind bereits ein gewisses Grundwissen und Kompetenzen vorhanden, um die Teilhabe von Jugendlichen mit ASS zu ermöglichen. Zu Hause und im öffentlichen Umfeld gibt es neben den Eltern jedoch niemanden, der zum Beispiel dafür zuständig ist, Jugendliche mit ASS zur Körperpflege zu ermahnen, mit ihrem Volleyballtrainer zu kommunizieren oder mit ihnen ins Kino zu gehen. Deshalb braucht es ergänzende Services. Ergotherapeut:innen können dabei eine Rolle spielen, aber auch Sozialarbeitende sowie Institutionen wie die Pfadi, Sportvereine oder die SBB. All diese Beteiligten brauchen ein gewisses Verständnis und Anlaufstellen, um sich zu informieren, wie sie Jugendliche mit ASS aufnehmen respektive mit ihnen im öffentlichen Raum umgehen können. 

Ihre Doktorarbeit ist abgeschlossen, das Thema nicht. Wie geht es weiter? 

Zuerst möchte ich zwei weitere Studien fertig veröffentlichen und meine Resultate mit Artikeln und Vorträgen breit zugänglich machen. Auch schwebt mir vor, die Erkenntnisse aus meiner Arbeit praktisch nutzbar zu machen. Eltern in meiner Umfrage nannten 600 Strategien, um Kinder mit ASS beim Partizipieren zu unterstützen. Ein Beispiel war etwa, dass sie Aktivitäten wie einen Konzertbesuch auf eine halbe Stunde kürzen, um die Kinder sensorisch nicht zu überreizen. Solches Wissen möchte ich in einem Interventionsansatz systematisieren – sicher für Ergotherapeut:innen aber auch für andere Personen, die mit diesen Jugendlichen zu tun haben. Letztlich möchte ich auf die gesellschaftliche Verantwortung verweisen, Umwelten so zu gestalten, dass sich Jugendliche mit ASS stärker in unsere Gesellschaft einbringen können.

Zur Person

Beate Krieger arbeitet seit gut dreissig Jahren als Ergotherapeutin, seit 1999 in ihrer eigenen Praxis für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsschwierigkeiten. Ebenso engagiert sie sich für die Ausbildung von Ergotherapeut:innen. Seit 2007 unterrichtet sie am Institut für Ergotherapie der ZHAW, davor auch an den Ergotherapieschulen in Zürich und Lugano. 2022 doktorierte Beate Krieger an der Universität Maastricht bei Prof. Dr. Sandra Beurskens – mit ihrer Arbeit «Environment and participation of adolescents with autism spectrum disorder – a multi-perspective study». Bereits zuvor erhielt Krieger für ihre Forschung im Bereich ASS Anerkennung. So wurde ihre Masterarbeit zum Asperger-Syndrom und Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt 2014 als beste Publikation der Departements Gesundheit der ZHAW ausgezeichnet. Weiter führte ihre Mitarbeit an einem Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV 2021 zur schweizweiten Intensivierung der Frühförderung von Kindern mit frühkindlichem Autismus. Und vor kurzem erschien ein Literaturreview zu Umweltanpassungen an Arbeitsplätzen von neurodiversen Personen. Dazu arbeitete Krieger mit Umweltpsycholog:innen der ZHAW und aus Grossbritannien zusammen.